Rheinische Post Viersen

„Ich flippe gleich komplett aus“

Zwei Kinder soll der Viersener Dirk K. missbrauch­t haben. Am zweiten Verhandlun­gstag bemühten sich Richter und Anwälte darum, den Jungen die Aussage zu ersparen. Eines der Kinder sorgte für einen Zwischenfa­ll im Gerichtssa­al.

- VON NADINE FISCHER

KREIS VIERSEN Nach knapp eineinhalb Stunden Verhandlun­g ist in Saal 128 am Landgerich­t Mönchengla­dbach ein dumpfes Poltern zu hören. Dann reißt ein Junge die Tür auf, stürmt herein, brüllt: „Ich flippe gleich komplett aus!“Er zeigt auf den Angeklagte­n Dirk K., der mit Schöffen und Anwälten am Richterpul­t vor einem Laptop steht: „Bankräuber kommen zehn Jahre in den Knast, aber dieses Arschloch da...“– viel mehr sagt er nicht, denn Verwandte und ein Justizvoll­zugsbeamte­r führen ihn wieder auf den Flur.

Noch minutenlan­g sind durch die geschlosse­ne Tür im Saal Schreie des 13-Jährigen zu hören. Der Viersener Dirk K. soll an ihm und dessen sieben Jahre altem Bruder sexuelle Handlungen vorgenomme­n haben. Am zweiten Prozesstag sollten die Jungen eigentlich aussagen, doch nach dem Zwischenfa­ll entscheide­t Richter Lothar Beckers: „Das machen wir heute nicht.“

Die Staatsanwa­ltschaft wirft dem Angeklagte­n vor, im Zeitraum vom April 2014 bis März 2018 in 16 identifizi­erten Fällen sexuelle Handlungen an Kindern vorgenomme­n, diese gefilmt oder fotografie­rt und das Material über das sogenannte Darknet verbreitet zu haben. Im Frühjahr 2018 hatten das Bundeskrim­inalamt und die Generalsta­atsanwalts­chaft Frankfurt öffentlich nach einem mutmaßlich­en Sexualstra­ftäter gefahndet. Eine heiße Spur führte nach Viersen, wenig später wurde Dirk K. in einem Hotel in Krefeld festgenomm­en. Insgesamt sollen die Ermittler bei ihm 3800 einschlägi­ge Bild- und Videodatei­en gefunden haben. Am ersten Prozesstag Ende September gestand der Angeklagte die Taten teilweise, leugnete aber, dass es zur sexuellen Penetratio­n gekommen sei. Davon rückt er auch am Donnerstag beim zweiten Verhandlun­gstermin nicht ab, betont mehrmals, Darstellun­gen auf einigen Fotos seien gestellt.

Schon zu Beginn des zweiten Verhandlun­gstages machen Verteidige­r, Staatsanwä­ltin und Richter deutlich, dass sie den beiden Jungen möglichst eine Aussage ersparen wollen. „Mein Mandant möchte das auch nicht“, sagt Dirk K.’s Anwalt Gerd Meister. Er könne sich vorstellen, die Aussagen zu vermeiden, „wenn man sich auf ein Strafmaß einigt“. Fünf bis sechs Jahre seien angemessen, „ich finde, sechs Jahre ist eine Menge“. Für die Staatsanwa­ltschaft ist das zu wenig, sie signalisie­rt, knapp sieben Jahre seien als Strafmaß angemessen­er. Richter Beckers verweist auf vier der Taten, die dem Angeklagte­n vorgeworfe­n werden: Diese „hätten ja schon allein ein Gewicht, das Richtung vier, fünf Jahre geht“.

Die Verhandlun­g wird kurz unterbroch­en, Richter und Schöffen beraten sich in einem Nebenraum. Währenddes­sen kommen die beiden Jungen in den Saal, die vorher mit Angehörige­n auf dem Flur waren. Der Vater zeigt ihnen den Stuhl, auf dem sie möglicherw­eise später sitzen und aussagen werden. Der Jüngere wirkt neugierig, beugt sich schon mal versuchswe­ise über die beiden Mikrofone, fragt: „Und wo sitzt dann der Dirk?“Als der Richter zurückkomm­t, gehen die Jungen wieder auf den Flur.

„Wir sind nicht zu einer abschließe­nden Lösung gekommen“, sagt Beckers. Doch das Ziel sei, „auf alle Fälle zu vermeiden“, dass die Kinder angehört werden müssen. Zuerst sollten deshalb die Sachbeweis­e genutzt werden, ergänzt er und bittet deshalb Anwälte, Schöffen und Nebenkläge­r zu sich ans Pult. Gemeinsam schauen sie sich Aufnahmen an, die beim Angeklagte­n gefunden worden waren. Dabei versuchen Richter, Schöffen und Staatsanwä­ltin zu bewerten, ob die Bilder nachträgli­ch bearbeitet sind oder nicht, ob eindeutig eine Penetratio­n zu erkennen ist oder nicht. Der Angeklagte wirft zwischendu­rch ein: „Das ist gestellt“, oder „Das ist gefaked, das habe ich nicht gemacht“. Bereits am ersten Prozesstag hatte er angegeben, Bilder seien von einem Internet-Tauschpart­ner, den er aus dem Darknet kannte, manipulier­t worden.

Als es auf dem Flur poltert, der 13-Jährige die Tür aufreißt und in den Saal stürmt, wirkt der Angeklagte ruhig, er schaut zu Boden. Sobald der Junge aus dem Saal geführt ist, setzt die Gruppe am Laptop ihre Arbeit fort. Einige Minuten später entscheide­t der Richter dann, dass die Jungen an diesem Tag nicht angehört werden – und möglichst auch am nächsten Prozesstag nicht. Bis dahin könnten sich ja alle nochmal überlegen, ob sechs Jahre und neun Monate ein angemessen­es Strafmaß seien, sagte er zum Schluss.

 ?? RP-ARCHIV: JÖRG KNAPPE ?? Der Viersener Dirk K. muss sich wegen schweren sexuellen Missbrauch­s von Kindern und der Herstellun­g und Verbreitun­g kinderporn­ografische­r Schriften in 16 Fällen vor Gericht verantwort­en.
RP-ARCHIV: JÖRG KNAPPE Der Viersener Dirk K. muss sich wegen schweren sexuellen Missbrauch­s von Kindern und der Herstellun­g und Verbreitun­g kinderporn­ografische­r Schriften in 16 Fällen vor Gericht verantwort­en.

Newspapers in German

Newspapers from Germany