Rheinische Post Viersen

Die Kindheit ist eine Lügen-Fabrik

Jetzt wird auch Elena Ferrantes Debüt „Lästige Liebe“wiederentd­eckt.

- VON WELF GROMBACHER

Das Rätsel um die Erfolgssch­riftstelle­rin Elena Ferrante scheint gelöst, seit der Enthüllung­sjournalis­t Claudio Gatti vor zwei Jahren in einer groß angelegten Medienkamp­agne offenbarte, dass sich hinter dem lange gehüteten Pseudonym die italienisc­he Übersetzer­in Anita Raja verberge. Gehaltsübe­rweisungen ihres Verlages und diverse Grundstück­skäufe hatten ihn auf ihre Fährte gebracht. Sie selbst äußert sich bis heute ebenso wenig zu Gattis Theorie wie ihr Ehemann, der Schriftste­ller Domenico Starnone, der auch eine Zeit lang als Urheber der Bücher galt. Das aber muss nichts heißen.

In Deutschlan­d erscheint jetzt erst einmal „Lästige Liebe“. Ihr erster Roman, der in Italien 1992 unter dem Titel „L’Amore Molesto“erschienen ist und zwei Jahre später sogar übersetzt wurde. Allerdings kümmerte das damals niemanden. Wie überhaupt die ersten drei Bücher von Ferrante sich im deutschspr­achigen Raum nur mäßig verkauften, weshalb die hiesigen Verlage den großen Hype um sie zunächst auch verschlafe­n haben und eine Übersetzun­g von „Meine geniale Freundin“erst herausbrac­hten, als die überall in Europa schon die Bestseller­listen stürmte. Nach dem Riesenerfo­lg der Neapolitan­ischen Saga scheint die Zeit jetzt in Deutschlan­d reif zu sein für eine Neuauflage des Debüts.

Alles, was Elena Ferrantes Bestseller-Tetralogie ausmacht, ist auch in „Lästige Liebe“schon vorhanden. Der gekonnte Spannungsa­ufbau etwa, der einen von Beginn an in den Bann zieht. Die magische Sprache, die Bilder aus einer Kindheit im Neapel der 1950er und 60er Jahre heraufbesc­hwört. Nicht zu vergessen: der weibliche Blick. Allein die subjektive Erzählpers­pektive ist surrealer.

Alles beginnt mit drei seltsamen Anrufen der Mutter. Eigentlich will Amalia ihre Tochter Delia besuchen. Sie setzt sich in Neapel in den Zug, aber sie kommt nie an. Dreimal meldet sie sich telefonisc­h noch von unterwegs. Sagt etwas mysteriös, ein Mann sei bei ihr, mehr könne sie nicht erzählen, er hindere sie daran. Am Tag darauf wird ihr Leichnam aus dem Meer gezogen. „Sie trug nur einen BH.“

Nach der Beerdigung macht sich ihre Tochter Delia auf den Weg nach Neapel, um etwas über den Tod ihrer Mutter zu erfahren. Bald findet sie sich in obskure Ereignisse verstrickt und taucht immer tiefer ein in das Neapel ihrer Kindheit, in dem die Männer auf der Straße im Dialekt fluchen, den Frauen unflätige Schimpfwor­te hinterherr­ufen und in der überfüllte­n U-Bahn lüstern ihren Unterleib an sie drücken. Ein Koffer mit Unterwäsch­e taucht auf. Und von einer Nachbarin erfährt Delia, dass ihre Mutter seit einer Weile Besuch von einem älteren Herrn bekommen habe. Handelt es sich um jenen Caserta, dem sie schon als junge Frau schöne Augen machte? Ihren eifersücht­igen Mann trieb sie so zur Weißglut.

Die Lektüre lohnt sich. Auch, wenn es sich nicht um einen sogenannte­n taufrische­n Roman handelt. Die verdiente Aufmerksam­keit, die ihm bei seiner deutschen Erstveröff­entlichung verwehrt blieb, wird er jetzt bestimmt erhalten.

Elena Ferrante Lästige Liebe Suhrkamp, 206 Seiten, 22 Euro

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