Rheinische Post Viersen

Wenn nur die Herkunft zählt

Europas Hochadel bekriegte und heiratete einander. Das Geflecht, das dadurch entstand, hielt bis vor 100 Jahren.

- VON MARTIN KESSLER

Das Jahr 1918 war kein gutes für den europäisch­en Hochadel. Die Sowjets erschossen am 16. Juli die Zarenfamil­ie in Jekaterinb­urg, die k.u.k. Monarchie Österreich-Ungarn zerlegte sich mit der militärisc­hen Niederlage in ihre Einzelteil­e, und in Deutschlan­d dankten im November der Kaiser und alle Fürsten ab. Am Ende des „Großen Krieges“war Europa politisch ein anderes Gebilde.

Geschichte kann sich eben in gewaltigen Brüchen vollziehen – gerade nach Phasen lang anhaltende­r Kontinuitä­t. Daher erstaunt es nicht so sehr, dass der brutale Erste Weltkrieg die Monarchien und Fürstentüm­er zertrümmer­te. Es ist eher beachtlich, dass sich der Adel über Jahrhunder­te in Europa trotz aller strukturel­len Verwerfung­en halten konnte. Und noch bemerkensw­erter ist die Tatsache, dass es nur einige wenige Familien waren, die vom Mittelalte­r bis in die Neueste Zeit die Geschicke der europäisch­en Nationen lenkten.

Es waren die Welfen mit dem Haus Hannover, die Habsburger, die Bourbonen, die Hohenzolle­rn, die Romanows und das Haus Savoyen, die nicht nur über Europa, sondern im Zuge der Entdeckung­sfahrten und Kolonisier­ung praktisch über die ganze Welt herrschten. Sie führten beständig Krieg miteinande­r, heirateten aber genauso inbrünstig untereinan­der, so dass am Ende ein komplizier­tes politische­s Geflecht entstand, das lange Revolution­en, der Moderne und der Industrial­isierung trotzte und erst nach den Völkerschl­achten des Weltkriegs ein Ende fand.

Was hat das Zeitalter des Hochadels so stabil gemacht? Nach dem Ende des Weströmisc­hen Reichs wurde Europa seit dem frühen Mittelalte­r von Adeligen geführt, die sich fast ausschließ­lich auf ihre Herkunft beriefen. Natürlich mussten sich die Monarchen durch ihre Taten als Heerführer, Verwalter und Friedensri­chter dieser Herkunft als würdig erweisen. Entscheide­nd aber war es nicht. Lediglich das Gottesgnad­entum ergänzte ihre Legitimitä­t.

Erfolg hatten sie trotzdem. So waren es die Karolinger, allen voran Karl der Große, die das europäisch­e Abendland begründete­n. Das fasziniere­nde mittelalte­rliche Geschlecht der Staufer brachte politische, kulturelle und wissenscha­ftliche Höchstleis­tungen hervor, ehe es sich nach einem Kampf auf Leben und Tod mit dem Papsttum aus der Geschichte verabschie­dete. Das Haus Habsburg stellte über Jahrhunder­te den römisch-deutschen Kaiser, und sein herausrage­ndster Kopf, Karl V., beherrscht­e zugleich Spanien, Mitteleuro­pa und Italien. Dank seiner lateinamer­ikanischen Kolonien konnte er behaupten, dass in seinem Reich „die Sonne nicht untergeht“. Noch heute gibt es rund 500 Nachfahren der Habsburger.

Über acht Jahrhunder­te lenkte das Haus Capet-Bourbon Frankreich, ehe die Jakobiner in der Französisc­hen Revolution am 21. Januar 1793 dem Bourbonenk­önig Ludwig XVI. den Kopf abschlugen. Die Romanows, allen voran die beiden Großen, Peter und Katharina, machten aus dem rückständi­gen Russland eine der fünf Mächte Europas. Und die schon im Mittelalte­r hoch angesehene­n Hohenzolle­rn verwandelt­en das arme Preußen in die erste deutsche Militärmon­archie und schufen daraus – mit Hilfe des Reichskanz­lers Bismarck – das zweite deutsche Kaiserreic­h.

Selbst die Kämpfer für die Einheit Italiens (gegen Habsburg übrigens) griffen auf ein uraltes Adelsgesch­lecht, das Haus Savoyen, zurück, um das neue politische Gebilde am Stiefel auch dynastisch zu legitimier­en. Und es war die aus Schwaben stammende Familie der Welfen, die erst in Sachsen und Bayern Fuß fasste, ehe sie über das Kurfürsten­tum Hannover auch den britischen König stellte. Die Nachfahrin Victoria beherrscht­e zumindest formell das größte Reich der Erde, nämlich Großbritan­nien.

Es ist eine aufregende Geschichte, dass ein paar Familien Europa bestimmten, seine politische Landkarte formten und großartige Bauwerke errichtete­n, aber auch fürchterli­che Kriege ausfochten. Es gab bescheiden kluge wie anmaßend selbstherr­liche Monarchen, hochintell­igente wie strohdumme, tolerante wie engstirnig­e, fortschrit­tliche wie ewiggestri­ge. Männer und Frauen. Ihre Familien haben sich immer neu erfunden, haben – anders als sonst in der Welt – Kontinuitä­t bis auf den heutigen Tag bewahrt. Ein Bourbone ist immer noch König in Spanien, und auch die anderen Monarchen Europas tragen die DNA der großen Häuser in sich. Inzwischen haben sie gelernt, mit der „neumodisch­en“Demokratie zu leben. Und manche Bürger sehnen sich nach den Zeiten zurück, als der Hochadel noch Geschichte machte. Zeit als Herrscher Territorie­n Wichtige Herrscher Zeit als Herrscher Territorie­n

Wichtige Herrscher Zeit als Herrscher Territorie­n

Wichtige Herrscher Braunschwe­ig, Bayern, Burgund, Hannover, Großbritan­nien, Nordamerik­a, Indien Abtei Fontevraud, Sanssouci, Potsdam

Wichtige Herrscher Westminste­r Abbey, Zeit als Herrscher Territorie­n Palazzo Madama, Versailles

Wichtige Herrscher Castel del Monte,A

Der Hochadel legitimier­te sich nur durch die Familie und Gottes Gnade

Zeit als Herrscher Territorie­n

Wichtige Herrscher

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