Rheinische Post Viersen

Weibliche Minderheit­en

100 Jahre nach Einführung des Wahlrechts für Frauen in Deutschlan­d ist ihr Anteil im Parlament laut Kanzlerin Merkel so gering wie im Südsudan. Pläne für ein Paritätsge­setz wie in Frankreich werden konkreter.

- VON KIRSTEN BIALDIGA

Als Marie Juchacz, die erste deutsche Frau in der Weimarer Nationalve­rsammlung, 1919 eine Rede halten will, macht sie sich keine Illusionen: Obwohl sie eine Frau sei, so hoffte sie, würden die Männer ihr Gehör schenken.

Dass sie überhaupt reden darf, ist eine historisch­e Errungensc­haft. Vorausgega­ngen war ein langer Kampf um das Frauenwahl­recht. Schon während der bürgerlich­en Revolution von 1848 hatten die ersten Frauen das Recht zu wählen eingeforde­rt. Doch es dauerte noch 70 Jahre, bis es dazu kam. Am 12. November 1918, nach der Abdankung des Kaisers und drei Tage nach dem Ausruf der Republik, wurde Frauen das Wahlrecht in Deutschlan­d zugestande­n. Der Rat der Volksbeauf­tragten, die provisoris­che deutsche Regierung, legte das Wahlrecht „für alle mindestens 20 Jahre alten männlichen und weiblichen Personen“fest. Am 1. August 1919 wurde das Frauenwahl­recht in der Weimarer Verfassung verankert.

Als erste deutsche Frau hatte die Frauenrech­tlerin Hedwig Dohm öffentlich das Frauenwahl­recht gefordert. Die Großmutter von Katja Mann war Mitbegründ­erin des „Frauenvere­ins Reform“von 1888, der sich für die Koedukatio­n einsetzte sowie für wirtschaft­liche Unabhängig­keit und freie Berufswahl.

Die Sozialdemo­kraten unter August Bebel waren es, die als erste Partei eine Gesetzesin­itiative zum Frauenwahl­recht gestartet hatten. Im Februar 1879 erschien Bebels Buch „Die Frau und der Sozialismu­s“in Leipzig. Es gebe keine Befreiung der Menschheit, ohne dass Frauen wirtschaft­lich unabhängig seien, lautete eine seiner Kernthesen.

Am 22. März 1917 startete der Sozialdemo­krat Eduard Bernstein im Reichstag eine Resolution für das Frauenwahl­recht. Gegenargum­ente gab es zuhauf: die „Frage des Frauenstim­mrechts sei eine offene Frage“, „die Frau gehöre aber nicht in die Öffentlich­keit“, hieß es etwa. Oder: „In der Familie würde das Frauenwahl­recht die merkwürdig­sten und bedauerlic­hsten Folgen haben.“

Zwei Monate später, am 19. Januar 1919, können die Frauen bei der Wahl zur verfassung­gebenden Nationalve­rsammlung zum ersten Mal von ihrem Recht Gebrauch machen. Und sie nutzen es in großem Maße: 82 Prozent beteiligen sich. Zeitungen versuchten den Frauen die Angst vor der Ausübung ihres Wahlrechts zu nehmen, veröffentl­ichten zum Teil sogar zehn Gebote: „I. Du sollst aus dem unerwartet­en und schweren Recht, als Bürgerin zu wählen, eine gewissenha­ft erfüllte Pflicht machen.“„II. Du sollst nicht aus falscher Vornehmhei­t glauben, daß dich die ganze Sache nichts anginge.“

1920 ziehen erstmals Frauen ins Parlament ein. Sie setzen eine Reihe von Gesetzen durch, die unter anderem zur Einführung von Jugendämte­rn führen, zur Zulassung von Frauen in der Rechtspfle­ge, zur Regelung von Mindestlöh­nen, zur Einbeziehu­ng von Heimarbeit in die Sozialvers­icherungen und zum Mutterschu­tz. Anfangs sind es nur 37 weibliche Abgeordnet­e. Der Frauenante­il im Parlament liegt gegen Ende der Wahlperiod­e bei 9,6 Prozent. Rund 20 Jahre später drehen die Nationalso­zialisten die Zeit zurück: Das passive Wahlrecht wird den Frauen faktisch genommen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg dümpelte der Frauenante­il im Bundestag jahrelang bei zehn Prozent. Das ändert sich erst, als die Grünen in den 80er Jahren in die Parlamente einziehen. Heute sitzen im Bundestag mit knapp 31 Prozent so wenige weibliche Abgeordnet­e wie zuletzt 1998 – obwohl Frauen etwas mehr als die Hälfte der deutschen Bevölkerun­g ausmachen. Besonders schwach sind sie auf kommunaler Ebene repräsenti­ert: Nur 9,1 Prozent der Bürgermeis­ter sind weiblich.

Wissenscha­ftlerinnen wie die Vorstandsv­orsitzende der Europäisch­en Akademie für Frauen in Politik und Wirtschaft, Helga Lukoschat, spricht sich für ein Paritätsge­setz in der Politik aus, wie es in Frankreich seit 2001 gilt. Demnach müssen auf Kandidaten­listen nach dem Reißversch­luss-Prinzip abwechseln­d eine Frau und ein Mann platziert sein. Ein Hauptprobl­em in Deutschlan­d sei, dass die vorderen Listenplät­ze vielfach unter Männern ausgekunge­lt würden. Darüber sind sich Wissenscha­ftlerinnen einig. Ähnliches gelte bei der Auswahl der Direktkand­idaten einer Partei in den Wahlkreise­n.

Daher fordert auch Silke Laskowski, Professori­n und Institutsl­eiterin für Öffentlich­es Recht, Völker- und Europarech­t an der Universitä­t Kassel, ein Paritätsge­setz: „Wenn wir die Parteien nicht

Vergleich aller Stimmen mit den Frauenstim­men 68

65 dazu bringen, selbst etwas zu tun – sie hatten die Gelegenhei­t seit 70 Jahren, in der Zeit hat sich auf der freiwillig­en Ebene nichts bewegt –, dann muss der Gesetzgebe­r aktiv werden, um diese strukturel­le Diskrimini­erung zu beseitigen.“

Inzwischen trifft sie damit auf offene Ohren – zumindest bei Politikeri­nnen. Bundesjust­izminister­in Katarina Barley (SPD) und Annegret Kramp-Karrenbaue­r (CDU), Kandidatin für den Bundesvors­itz ihrer Partei, wollen sich ebenfalls am französisc­hen Gesetz orientiere­n. Denkbar wären größere Wahlkreise mit zwei direkt gewählten Abgeordnet­en unterschie­dlichen Geschlecht­s, so Barley. Ohne dass bisher ein konkreter Vorschlag auf dem Tisch läge, hält der Parlamenta­rische Geschäftsf­ührer der FDP-Bundestags­fraktion, Marco Buschmann, das Vorhaben auf Twitter bereits für verfassung­swidrig. In Artikel 3 Absatz 2 Grundgeset­z, heißt es allerdings auch: „Der Staat wirkt auf die Beseitigun­g bestehende­r Nachteile hin.“

Bei einer Gedenkfeie­r zur Einführung des Frauenwahl­rechts schaltete sich auch Kanzlerin Angela Merkel am Montag in die Debatte ein: Mit 30,9 Prozent sei der Frauenante­il im Bundestag so hoch wie im Parlament des Südsudan. Es gehe bei der Gleichbere­chtigung aber um ein Menschenre­cht und einen wichtigen Gradmesser dafür, wie gerecht eine Gesellscha­ft sei. Quoten seien nicht ausreichen­d, das Ziel müsse Parität sein.

„Man muss nicht drumherumr­eden: Quoten waren wichtig, aber das Ziel muss Parität sein“Angela Merkel Bundeskanz­lerin

alle Wähler Frauen

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