Rheinische Post Viersen

Pfaffs Hof

- Von Hiltrud Leenders

Bei mir blieb sie stehen und zuckte richtig zusammen, als sie mein Bein mit dem durchgeblu­teten Verband sah.

„Wie ist das denn nur passiert?“Sie legte mir die Hand auf den Kopf.

„Ich bin mit dem Fahrrad gestürzt.“

„Und wer hat . . .“Sie unterbrach sich selbst. „So kannst du nicht am Unterricht teilnehmen. Damit musst du zu einem Arzt.“

Sie hob meine Schultasch­e hoch und stellte sie auf den Tisch.

„Du gehst jetzt ins Sekretaria­t und rufst deine Eltern an, dass sie dich abholen und ins Krankenhau­s bringen. Cornelia, du begleitest sie zum Telefon und kommst dann umgehend zurück.“

Damit stand sie schon wieder an der Tafel. „Alles Gute, Mädchen.“

Ich humpelte aus der Klasse, Cornelia ging langsam hinter mir her.

Auf dem Flur blieben wir stehen. Wir hatten beide keine Eltern, die uns abholen konnten.

„Ich geh zum Bus“, sagte ich. Cornelia nickte. „Ich warte ein paar Minuten auf dem Klo.“

Sie griff in die Tasche ihres Tweedrocks, und es raschelte. Wie immer hatte sie Süßigkeite­n dabei. Ihr Vater steckte sie ihr heimlich zu, sie machten sie glücklich.

Ich musste lange auf den Bus warten, mein Bein wurde immer heißer.

Ob ich wirklich ins Krankenhau­s musste? Vielleicht sogar dableiben?

Mein Gebiss scheuerte, bestimmt war Gartendrec­k druntergek­ommen. Aber ich traute mich nicht nachzusehe­n, solange Leute um mich herum waren.

Radfahren ging einigermaß­en, Gehen tat mehr weh. Deshalb fuhr ich außen um den Hof, lehnte mein Rad an die alte Linde und kam durch die Spülküche herein.

Vor unserem Küchenherd schlüpfte Schmierlin­g in seinen Trenchcoat, und im Schlafzimm­er vor meiner Bettseite zog Mutter sich eine Unterhose an.

Ich hinkte an alldem vorbei ins Wohnzimmer, durch die Vordertür wieder raus in Gustes Laube.

Kein Papperlapa­pp.

„Der Anstreiche­r hat Tapetenbüc­her gebracht!“

Mutter zwitschert­e mal wieder. „Wenn Dirk im Bett ist, setzen wir beide uns gemütlich an den Tisch und suchen die Tapeten für alle Zimmer aus, auch für deins.“

Sie war nicht mit mir ins Krankenhau­s gefahren, noch nicht einmal zum Arzt.

Ein Bekannter von Onkel Maaßen, der Pfleger in der Anstalt war und über dem „Salon Jansen“wohnte, hatte sich um mich gekümmert, die Wunde desinfizie­rt und mit Kompressen und Mull verbunden.

„Ihr müsst gut achtgeben, dass sich das nicht entzündet.“

Er hatte Mutter noch mehr Verbandsze­ug mitgegeben.

„Sonst könnte das leicht eine Blutvergif­tung werden.“

Mutter hatte lachen müssen. „Ach was, da ist doch nur ein bisschen die Emaille ab.“

Ich suchte mir eine cremefarbe­ne Tapete mit blauen Blümchen aus.

In der nächsten Religionss­tunde sah Frau Illner schon beim Reinkommen ungeduldig aus, fast wütend.

„Wer von euren Vätern war bei der deutschen Wehrmacht?“

Wir guckten uns verdutzt an.

„Na los, wer von euren Vätern war als Soldat im Krieg?“

Wir meldeten uns alle, alle bis auf Beatrix, die ja keinen Vater hatte. Frau Illner nickte böse.

„Dann muss ich euch leider sagen, dass jeder eurer Soldatenvä­ter mitgeholfe­n hat, sechs Millionen Juden umzubringe­n.“

Sie guckte uns der Reihe nach an. Mir klopfte das Herz im Hals. „Sechs Millionen Juden. Vergast und verbrannt in den Konzentrat­ionslagern der Nationalso­zialisten. Nicht weil sie besonders böse Menschen waren. Nein! Einzig und allein weil sie Juden waren.“

Sie zog sich einen Stuhl heran und setzte sich vor uns.

„Wer von euch weiß etwas über Juden?“

Keine meldete sich.

Da fing sie an zu erzählen vom Volk Israel, von Judäa und Palästina, von der Vertreibun­g nach Babylon. Wie die Juden schließlic­h im Mittelalte­r über die ganze Welt verteilt lebten. Wie sie assimilier­t, dann aber doch immer diskrimini­ert wurden. Was Antisemiti­smus war.

Ich verstand nicht alle Wörter ganz genau, aber mir war flau und zittrig.

Als es schellte, sagte Frau Illner: „In den nächsten Stunden beschäftig­en wir uns mit Adolf Hitler und dem Antisemiti­smus der Nationalso­zialisten. Ich bringe Bildmateri­al mit.“

Vater war doch Nazi gewesen . . . Die anderen schnattert­en frohgemut herum, und eine der Silkes sagte: „Sieht ganz so aus, als käme sie bald wieder weg.“

Beim Abendessen hielt ich es nicht mehr aus.

„Habt ihr sechs Millionen Juden umgebracht?“

Der Löffel fiel Vater aus der Hand und klirrte auf den Fußboden.

Mutter schnappte nach Luft. „Das hat man doch nicht gewusst!“Sie verstolper­te sich. „Und ich war ja auch fast noch ein Kind.“

„Kommuniste­npropagand­a!“Vaters Stimme klirrte, und mit so kleinen Augen hatte er mich noch nie angesehen.

„Bringen sie euch das in deiner neuen Schule bei? Wenn ich noch einmal so etwas aus deinem Mund höre, nehme ich dich sofort da runter.“

Er ging nicht ins Bett, sondern nach draußen.

Er kam auch nicht zurück.

Als Mutter mich am nächsten Morgen weckte, war er schon zum Dienst gefahren.

Wenn ich mit den evangelisc­hen Mädchen aus meiner Klasse zur Konfirmati­on gehen wollte, musste ich sofort mit dem Katechumen­enunterich­t anfangen, obwohl wir noch nicht umgezogen waren. Aber wie sollte das gehen? Um zehn nach eins war die Schule aus, der Katechumen­enunterric­ht im neugebaute­n Jugendheim neben dem Gemeindesa­al fand immer dienstags von drei bis halb fünf statt.

Wo sollte ich in der Zwischenze­it bleiben? Ohne Mittagesse­n.

Vater sah da kein Problem. „Sie kann zu Emil gehen, das sind nur ein paar Schritte. Da kann sie in Ruhe Schularbei­ten machen. Und Meta kocht sowieso Mittag, da ist bestimmt was für Annemie übrig. Die isst doch sowieso wie ein Vögelchen.“

(Fortsetzun­g folgt)

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