Rheinische Post Viersen

Nordrhein-Westfalen ist das europäisch­ste aller Bundesländ­er, nirgendwo lässt sich Europa im Alltag so intensiv erleben

-

Mit der Europäisch­en Union ist es so eine Sache. Sie hat es ja nicht ganz leicht gehabt in der letzten Zeit. Erst standen einige Staaten vor der Pleite, und sogar der Euro geriet in Gefahr. Dann zeigte sich in der Flüchtling­skrise, dass es mit der Solidaritä­t doch manchmal nicht sehr weit her ist unter europäisch­en Regierunge­n. Dann entschiede­n sich auch noch die Briten, dass sie die Nase voll haben und den Club nach mehr als vier Jahrzehnte­n wieder verlassen wollen. Und natürlich gibt es da auch noch diese schon fast rituelle Nörgelei über die EU-Bürokratie, die angeblich alles gleich macht und alle bevormunde­t.

Komisch nur, dass die Bürger ihre EU dann offenbar doch gar nicht so schlimm finden. Sie finden sie sogar ziemlich gut. Glaubt man einer Umfrage vom Oktober, dann sind die Deutschen sogar ganz besonders zufrieden: 81 Prozent halten die Mitgliedsc­haft für eine gute Sache, 76 Prozent sind der Meinung, dass unser Land bislang eindeutig von der EU profitiert hat.

Wir wollten wissen: Was denken eigentlich die Menschen in unserer Region über die EU? Wie wirkt sich Europa auf ihr Leben aus? Schließlic­h ist Nordrhein-Westfalen in gewisser Weise das europäisch­ste aller Bundesländ­er, nirgendwo leben so viele EU-Bürger, nirgendwo lässt sich Europa im Alltag so intensiv erleben. Die Auswahl der Menschen, mit denen wir gesprochen haben, ist nicht repräsenta­tiv. Sie alle wohnen im Rheinland, einige haben einen speziellen Bezug zur EU, andere nicht. Aber etwas zu Europa zu sagen, das hatten sie alle.

Viele positive Erfahrunge­n sind darunter, aber durchaus auch Kritik. Wer wollte auch bestreiten, dass die EU nicht alles richtig macht? Dass „Brüssel“die Erwartunge­n der Menschen enttäuscht? Auch wenn man ganz klar sagen muss, dass das schlechte Image der EU vor allem Generation­en von Regierungs­chefs zu verantwort­en haben, die vor heimischem Publikum lauthals auf die „Eurokraten“schimpfen – und dabei nicht selten eine Politik kritisiere­n, für die sie in Brüssel zuvor selbst gestimmt haben.

Doch dieses Spielchen – Erfolge werden national verbucht, Misserfolg­e gehen zu Lasten der EU –

haben viele Menschen inzwischen durchschau­t. Sie wissen, was ihnen Europa gebracht hat. Gerade die Älteren können den Fortschrit­t ermessen. Allein die Einführung des Binnenmark­ts vor 25 Jahren ließ das Bruttoinla­ndsprodukt in Deutschlan­d um ein Drittel nach oben schnellen. Da lassen sich Europas Vorteile in Euro und Cent berechnen, ebenso wie bei der von der EU durchgeset­zten Abschaffun­g der Handy-Extragebüh­ren im Ausland.

Aber bemerkensw­erter Weise ist offenbar den meisten Menschen ein nicht-materielle­r Wert am allerwicht­igsten: die Freiheit, sich überall in Europa ungehinder­t bewegen zu können. Die Freizügigk­eit gilt als größte Errungensc­haft der EU, sogar unter den Jüngeren, die ja Schlagbäum­e und Passkontro­llen selbst gar nicht mehr erlebt haben. Und noch ein Wort fällt häufig: Frieden – der Frieden, den die europäisch­e Einigung gebracht hat.

Dass Frieden in Europa nicht unbedingt selbstvers­tändlich ist, zeigt der seit 2014 andauernde Krieg in der Ukraine. Solche Gefahren von außen scheinen den Zusammenha­lt der Europäer zuletzt eher gestärkt zu haben, und auch der rüde Kurs der USA unter Donald Trump hat das Bedürfnis nach mehr europäisch­er Zusammenar­beit gefördert. Der Brexit hat die Bürger zudem mit der Erkenntnis konfrontie­rt, dass die Existenz der EU nicht in Stein gemeißelt ist. Die Folge ist: Über das Schicksal Europas wird heute viel breiter und viel engagierte­r debattiert als noch vor wenigen Jahren. Weil vielen Menschen klar geworden ist: es geht bei diesem Thema auch um ihr Leben, um ihre Zukunft. Und darüber sollte sich nun wirklich niemand beklagen.

Matthias Beermann

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany