Rheinische Post Viersen

Pfaffs Hof

- Von Hiltrud Leenders

Mutter wollte lieber Kohlen und Briketts, weil die die Wärme länger hielten und man nicht so oft nachlegen musste, aber Vater sah es gar nicht ein, dass er „das gute Holz“einfach hier „vergammeln lassen“sollte.

„Ist Mutti schon wieder da?“„Nein, aber geh rein und guck, was deine Tante macht. Nicht, dass die uns doch noch die Bude abfackelt.“

Liesel lag auf den Knien unterm Esstisch, schaukelte vor und zurück und weinte laut.

Ich kriegte Angst.

„Renn!“, schrie sie mich an. „Renn weg! Die kommen uns holen!“

Ich blieb an der Küchentür stehen. „Wer denn?“

„Die sind dadrin“, wisperte sie und zeigte auf den Kühlschran­k. „Die holen mich!“

Ich rannte auf die Tenne zurück zu Vater. „Komm schnell! Mit Liesel ist was!“

Vater rannte nicht, er ging ganz normal, vielleicht ein wenig langsamer als sonst.

Als Liesel ihn sah, fing sie laut zu heulen an.

„Die Fratze! Die Fratze!“Sie legte beide Arme über den Kopf. „Schlag mich tot, schlag mich doch tot!“

„Geh sofort ins Bett!“, fuhr Vater sie an, und Liesel gehorchte. Auf allen vieren krabbelte sie in Trudi Pfaffs Schlafzimm­er, so schnell sie konnte.

Vater schüttelte den Kopf. „Knatergeck . . . Die gehört weggeschlo­ssen, und zwar sofort.“

„Ist sie . . . geisteskra­nk?“Meine Stimme zitterte.

„Das kannst du wohl sagen. Ich rufe die Polizei. Die sorgen dafür, dass sie in die Anstalt kommt.“

Aber weil Mutter kam, wurde die Polizei nicht gerufen.

Es wurde wieder viel telefonier­t, und Mutter weinte die ganze Zeit.

Opa kam und hielt seiner ältesten Tochter die Hand.

Die hockte auf der Sofakante, bewegte sich nicht, sagte nichts. Sie rauchte nicht einmal.

Als Karl-Dieter am Abend kam, um sie in eine Anstalt in Köln zu bringen, musste er sie ins Auto tragen.

Frau Illner erzählte uns, dass ihr Vater in der „SS“gewesen war. Wie sie gelitten hatte, als sie das erfuhr. Und dass sie seitdem kein Wort mehr mit ihm gewechselt hatte und auch nie mehr mit ihm sprechen wollte.

Ich war also nicht die Einzige mit einem Nazivater.

„Vielleicht waren eure Väter ja in der ,SA’, das waren viele in der Zeit.“

Wir zuckten die Achseln, ich auch, und sie erklärte uns den Unterschie­d zwischen „SS“und „SA“.

Aber ich hatte schon von der „SA“gehört.

„Jupp war ja schon ganz früh in der ,SA’, das hat sich nicht jeder getraut . . .“

Wer hatte das gesagt? Herr Lehmkuhl? Ich wusste es nicht mehr. Es war schon länger her.

Nach der Stunde hatten wir große Pause, und als wir auf den Hof gingen, winkte die lange Silke jemandem zu.

„Meine Eltern“, erklärte sie. „Die waren bei der Direx, um sich über Frau Illner zu beschweren.“

„Meine waren gestern schon hier“, sagte die dunkle Silke. „Mein Vater war außer sich, als er gehört hat, was die Illner uns in Reli erzählt.“

„Dann kommt die jetzt bestimmt wieder weg“. . .

Das hatte Silke schon einmal gesagt.

„Wohin denn?“, fragte ich.

„In die Anstalt.“

„In die Irrenansta­lt?“

Silke nickte. „Die hat irgendeine komische Krankheit, da ist sie manchmal nicht ganz richtig im Kopf. Wenn sie dann Medizin kriegt, geht es wieder.“

Ich wurde sehr traurig.

Den Film über die Befreiung von Auschwitz sahen wir nicht.

Manchmal weinte Mutter noch wegen Liesel, aber meist hatte sie keine Zeit dafür.

Es gab so viel zu packen und zu tun.

Ich blieb nach der Schule fast immer bei Opa, weil Vater nachmittag­s unseren neuen Garten umgrub und Mutter den Dreck der Handwerker wegmachte und alles putzte.

Ich aß gern bei Opa und Tante Meta, obwohl Meta manchmal Sachen kochte, die ich nicht kannte, „saure Nierchen“oder irgendwas mit „Gänseklein“zum Beispiel.

Aber es schmeckte immer sehr lecker, und es war schön, beim Essen mit Opa zu erzählen.

Vater und Mutter stritten die ganze Zeit darüber, wie unsere Sachen in die Stadt transporti­ert werden sollten.

Mutter wollte einen Umzugswage­n, aber Vater wehrte sich mit Händen und Füßen.

„Wenn Pit Lehmkuhl zweimal mit seinem Viehanhäng­er fährt, kriegen wir auch alles rübergebra­cht.“

„Und unsere ganzen Sachen stinken nach Mist. Von wegen!“

„Dann frag ich Möllenbrin­k, der hat einen Pferdeanhä­nger. Der stinkt nicht.“

„Und wie der stinkt!“

Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen.

„Warst du auch ein Nazi, Opa?“Er nickte einfach nur. „Was blieb mir anderes übrig mit sechs Kindern.“

„Das ist schlimm.“Mir ging die Kehle zu, ich wollte ihn nicht traurig machen.

„Ja, das ist schlimm. Aber vorher war es auch schlimm. Da wusste man nicht, wie man die Mäuler gestopft kriegen sollte.“

Ihm blieb fast die Stimme weg. „Und die Kleine kriegt die Englische Krankheit, weil sie nicht genug richtiges Essen hat, und geht einem beinah ein.“

Mit der „Kleinen“musste er Mutter meinen. Sie war als Baby fast an Rachitis gestorben.

Die Englische Krankheit?

Opa guckte lange auf seinen Teller. „Und jetzt ist es endlich gut. Und jetzt muss man vergessen . . . das alles vergessen.“

Ich schluckte. „Aber das darf man nicht“, flüsterte ich und räusperte mich. „Das darf man doch nicht vergessen, Opa!“

Tante Meta griff nach meinen Händen. „Doch, das muss man. Wenn ich immer an die Flucht denken würde, wie meine Mutter verhungert ist, was wir verloren haben, würde ich verrückt. Lass gut sein, Marjell.“

Ich hatte heute keine Hausaufgab­en auf und noch sehr viel Zeit bis zum Katechumen­enunterric­ht.

Weißt du, was“, sagte Meta. „Ich muss sowieso noch einkaufen, da begleite ich dich ein Stück, wir schauen mal beim Juwelier rein, und du zeigst mir, welche Uhr du dir zur Konfirmati­on wünschst.“

(Fortsetzun­g folgt)

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