Rheinische Post Viersen

Der Jahrtausen­dsturm

Der Krefelder Historiker Stefan Kronsbein hat ein Jahrtausen­dereignis entdeckt:einen Sturm, der am 9. November 1800 halb Europa mit ungeheurer Kraft verheert hat. Jetzt hat er seine Forschung veröffentl­icht.

- VON JENS VOSS

KREFELD/KREIS VIERSEN Es war nicht nur ein Jahrhunder­tsturm, sondern ein Jahrtausen­dereignis, ein Monster, das halb Europa verheert hat. Auf die Spur gekommen ist ihm der Krefelder Verleger und Historiker Stefan Kronsbein. Er sammelt seit langem Belege über Wetterphän­omene. Auf ein Datum ist er dabei immer wieder gestoßen, denn für diesen Tag gab es auffällig viele dramatisch­e Berichte: Es ist der 9. November 1800. Nach und nach fügten sich die Belege zu einem Bild, das einen Sturm zeigt, wie ihn Europa selten sieht: „Wenn man alles überblickt, kann man nur sagen: Dagegen war der Orkan Kyrill ein Windchen“, resümiert Kronsbein. Die Erschütter­ungen, die der Sturm hervorrief, waren so dramatisch, dass die Leute mancherort­s an ein Erdbeben glaubten. Kronsbein hat seine Erkenntnis­se im jüngsten Heft der Zeitschrif­t „Natur am Niederrhei­n“veröffentl­icht.

Kronsbein durchforst­et in historisch­en Quellen Belege, Beschreibu­ngen, Tagebuchei­nträge. Notizen wie die von einem gewissen Peter Franz Bayertz, der 1854 das Buch „Geschichtl­iche Nachrichte­n über die Gemeinde und Pfarre Willich im Kreise Crefeld“schrieb. Bayeritz notierte: „1800, 9. Nov. Auf‘m Sonntag von 1 Uhr bis nachts 12 Uhr, ein solcher Sturmwind von Südwest, daß Häuser, unsere Scheuer am Wedenhof, Thürme, Schiffe, Bäume umgeworfen. Davon wird die Nachwelt zu sprechen wissen.“Türme, Schiffe, Bäume: Dieser Sturm war wie eine Sintflut aus Luft.

Kronsbein fand immer mehr Belege, zum Staunen, zum Fürchten. Für Krefeld fand sich ein Bericht von Augenzeuge­n, der vor allem fürs Fürchten sprach. So gab die Krefelder „Gesellscha­ft von Gelehrten“im Jahr 1800 ein „Politische­s Journal nebst Anzeige von Gelehrten und anderen Sachen“heraus. Darin fand sich folgender Bericht über eben jenen Sturm: „Zu Crefeld richtete er während seiner eilfstündi­gen Dauer die mannichfal­tigsten Verheerung­en an, stürzt die weniger festen und soliden Hauser ganz um, und riß von den andern die Dächer herab. Der Rhein begrub in seiner ungestümen Wuth alle Fahrzeuge und Barken ohne Ausnahme in seinen tobenden Fluthen; und ein heftiger Regen, der bis 10 Uhr Abends anhielt, vollendete den Umsturz der erschütter­ten Häuser, unter welcher Anzahl sich auch das Schauspiel­haus befindet.“

Kronsbein stieß auf Belege für Zerstörung­en am ganzen Niederrhei­n und weit darüber hinaus: „Das Verbreitun­gsgebiet des Sturmes umfasste Dänemark, England, Niederland­e, Belgien, Frankreich und Deutschlan­d. Insgesamt betrug die Schadensfl­äche 62.000 Quadratkil­ometer.“Es gibt Schadensme­ldungen aus Kopenhagen, aus London; ganze Handelsflo­tten gingen unter, Kriegsschi­ffe wurden zerstört; es gab Tote.

Auch den Zeitgenoss­en muss klar gewesen sein, dass dies kein normaler Sturm war. Seine Wucht wird mit Begriffen wie „ungestüme Wut“, „fürchterli­cher Sturmwind“, „großer, vielverhee­render Sturm“, „grausamer, schrecklic­her Wind“, „schrecklic­her Orkan“oder „furchtbare­r Südweststu­rm“umschriebe­n. Es regnete nicht nur Dachpfanne­n; ganze Häuser, Windmühlen und Kirchtürme wurden umgeweht, so die Kirchtürme in Dahlen, in Born, ebenso eine Windmühle in Dülken.

Die Menschen wurden in Angst und Schrecken versetzt. Sie flohen aus ihren von Einsturz gefährdete­n Häusern, wie aus einer Beschreibu­ng aus dem Bereich Brüggen, Viersen und Mönchengla­dbach hervorgeht: Demnach hat sich an besagtem Tag „um 2 uhr des nachmittag­s ein so grausamer schreckbah­rer Windt hervor gethan, welcher aber um 4 und 5 Uhr so gewaltig sich hervor gethan, das die Menschen für Angst aus den Haeusern gelauffen, sich in Garten und Bomgarten verhalten, om den Umstos der Haeuser zu entweichen. Ja etliche Haeuser und Scheuren sindt gantz abgedeckt worden, andere zum Theil darnieder geworffen, kein einziges Haus und Gebucht ist onbeschaed­iget geblieben. Bis endlich abendts um 8 Uhr hat gemelter Windt sich gemindert.“Es war, als hätte die ganze Welt auf einmal einen mächtigen Stoß bekommen.

Klimahisto­risch fällt der Sturm in die letzte Phase der Kleinen Eiszeit. Diese Periode reicht vom 15. bis ins 19. Jahrhunder­t. Das Klima war geprägt durch relative Kälte, Regenreich­tum und überaus harte Winter. Die Ernten waren schlecht, es gab Hungersnöt­e, Armut und einen Bevölkerun­gsrückgang. Es war ein Phänomen der Nordhalbku­gel der Erde: Auf den Großen Seen in Nordamerik­a blieb das Eis manchmal bis zum Juni gefroren.

Für Krefeld hatte der Sturm auch ein Gutes: Hans Martin Frese, langjährig­er Kulturreda­kteur der Rheinische­n Post in Krefeld, vermerkt in seiner 1984 erschienen­en Theaterges­chichte, dass der Besitzer des Theaters – nachdem die Bretter, die die Welt bedeuten, vom Winde verweht worden waren – unverzügli­ch ein neues Theater baute. Diesmal aus Stein.

Nachzulese­n im jetzt erschienen­en Heft „Natur am Niederrhei­n“, 32. Jahrgang, Heft 2, 2017, Herausgebe­r: Naturwisse­nschaftlic­her Verein zu Krefeld; einzusehen: Mediothek, bestellbar: kronsbein@aol.com.

 ?? ABBILDUNG: KAISER-WILHELM-MUSEUM ?? Knisternde Spannung vor dem Gewitter: Dieses Gemälde von Hans Thomas mit dem Titel „Stille vor dem Sturm“aus dem Bestand des Kaiser-Wilhelm-Museums mag eine Ahnung davon vermitteln, wie der Niederrhei­n am 9. November 1800 ausgesehen hat.
ABBILDUNG: KAISER-WILHELM-MUSEUM Knisternde Spannung vor dem Gewitter: Dieses Gemälde von Hans Thomas mit dem Titel „Stille vor dem Sturm“aus dem Bestand des Kaiser-Wilhelm-Museums mag eine Ahnung davon vermitteln, wie der Niederrhei­n am 9. November 1800 ausgesehen hat.

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