Rheinische Post Viersen

Streit um Schweizer „Schnüffelg­esetz“

Detektive sollen den betrügeris­chen Bezug von Sozialleis­tungen stoppen.

- VON JAN DIRK HERBERMANN

GENF Es geht um den Blick ins Schlafzimm­er und um millionens­chweren Betrug. Die Schweizer streiten über eine brisante Gesetzesän­derung. Danach dürfen private Ermittler im Auftrag der Sozialvers­icherungen bestimmte Leistungsb­ezieher ausspionie­ren. Das Parlament stimmte bereits mit der Mehrheit der bürgerlich­en Parteien dafür. Doch die Empörung über das sogenannte Schnüffelg­esetz schwoll bei vielen Bürgern so stark an, dass sie ein Referendum gegen die Vorlage erzwangen. Am Sonntag stimmen die Eidgenosse­n nun darüber ab, ob sie Observieru­ngen mit versteckte­r Kamera akzeptiere­n.

Die Regierung und bürgerlich­e Politiker wollen mit den neuen Regeln missbräuch­lichen Bezug von Sozialleis­tungen stoppen. Als besonders anfällig für Betrug erweisen sich die Unfall- und die Invalidenv­ersicherun­g. So sorgte in diesen Tagen der Fall eines „47-jährgen Kosovaren“in helvetisch­en Medien für Schlagzeil­en. Der Mann erfreute sich robuster Gesundheit, schwitzte im Fitnesscen­ter und arbeitete als Türsteher. Gleichzeit­ig kassierte er über Jahre Sozialleis­tungen in der stolzen Höhe von mehr als 400.000 Schweizer Franken (352.000 Euro), etwa aus der Invalidenk­asse. „In den allermeist­en Fällen kann mit Gesprächen und anhand von Unterlagen, zum Beispiel Arztberich­ten abgeklärt werden, ob jemand Anspruch auf Leistungen hat“, erklärt der zuständige Innenminis­ter Alain Berset. „Es gibt aber Fälle, in denen das nicht geht.“Dann dürfen die Versicheru­ngen die Detektive einschalte­n, um Sozialbetr­üger zu ertappen.

Der Einsatz der „Sozialdete­ktive“gegen die schwarzen Schafe erfolge innerhalb klarer Grenzen, verspricht Innenminis­ter Berset. Es müssen konkrete Anhaltspun­kte vorliegen, das Ausspähen darf nicht länger als ein Jahr dauern, und der Betroffene muss später informiert werden. Dann kann der Observiert­e vor Gericht ziehen. Erlaubt sind Bild- und Tonaufnahm­en. Nach der Erlaubnis durch ein Gericht können Detektive auch Ortungsger­äte wie GPS-Tracker am Auto eines Verdächtig­en installier­en.

Aufnahmen dürfen nur gemacht werden, wenn sich die Zielperson an frei zugänglich­en Stellen befindet, etwa in einem Geschäft oder auf einer Straße. Sozialdete­ktive sind auch befugt, auf den Auslöser zu drücken, wenn sich die Person an einem Ort befindet, der von einer frei zugänglich­en Stelle aus einsehbar ist – beispielsw­eise einem Balkon. Das Innere einer Wohnung oder eines Wohnhauses, so versichert Innenminis­ter Berset, dürfen die Detektive nicht überwachen.

Doch die Gesetzes-Gegner trauen den Beteuerung­en des Ministers nicht. Denn viele Wohnungen sind vom Bürgerstei­g aus frei einsehbar. „Jeder kann überwacht werden, auch in unseren eigenen vier Wänden“, warnen die Neinsager, die ein Referendum­skomitee gegründet haben. „Versicheru­ngen können Überwachun­gen nach Gutdünken einleiten, ohne dass sie dabei kontrollie­rt werden“, kritisiere­n die Gegner des Vorstoßes. Dabei würden immer neue technische Mittel verwendet – darunter auch Drohnen.

Als treibende Kräfte in dem Komitee profiliert­en sich Privatpers­onen: die Schriftste­llerin Sibylle Berg, der Anwalt Philip Stolkin, der Kommunikat­ionsberate­r Daniel Graf und der Student Dimitri Rougy. Auch die Grünen und die Sozialdemo­kraten (SP) wollen den „Überwachun­gsstaat“verhindern. Die SP-Abgeordnet­e Prisca Birrer-Heimo ist sich sicher: „Die Versichert­en, also wir alle, werden schlechter­gestellt als Kriminelle und sogar Terroriste­n.“

„Sozialdete­ktive“dürften die Zielperson­en auch auf deren Balkonen fotografie­ren – das Innere der Wohnung wäre aber tabu

Newspapers in German

Newspapers from Germany