Rheinische Post Viersen

„Unser Schmerz ist unermessli­ch“

Die Familie des im Hambacher Forst verunglück­ten Steffen M. erhebt schwere Vorwürfe gegen die Landesregi­erung, unter anderem wegen Äußerungen von Innenminis­ter Herbert Reul (CDU). Dieser drückte erneut sein Mitgefühl aus.

- VON CHRISTIAN SCHWERDTFE­GER

DÜSSELDORF Es ist fast zweieinhal­b Monate her, dass Steffen M. bei einem Unglück im Hambacher Forst von einer Hängebrück­e etwa 15 Meter tief in den Tod stürzte. Der junge Mann erlag noch am Unfallort seinen schweren Verletzung­en. Der Student der Kölner Kunsthochs­chule für Medien war in eines der Baumhäuser geklettert, um die Räumungsar­beiten der Polizei von oben zu dokumentie­ren. Er sympathisi­erte mit den Baumhausbe­wohnern, teilte deren Einstellun­g eines ressourcen­schonenden Lebens.

Nun haben sich die engsten Familienan­gehörigen mit einem offenen Brief an die Landesregi­erung gewandt. In dem zweiseitig­en Schreiben, das unserer Redaktion von den Angehörige­n für eine Berichters­tattung zur Verfügung gestellt worden ist, bringen sie ihre Gefühle und Trauer zum Ausdruck. Ihr Schmerz sei unermessli­ch. „Warum wir uns nun öffentlich dazu äußern, hängt damit zusammen, dass Aussagen von Landespoli­tikern und das Verhalten von Behörden unsere Trauer und unseren Schmerz verstärkt haben. Und wir möchten nicht stehen lassen, was im Zusammenha­ng mit Steffens Tod von Seiten der Landesregi­erung veröffentl­icht wurde“, heißt es in dem Brief.

Die Familie macht der Polizei und der Landesregi­erung eine Reihe von Vorwürfen. Sie kritisiert, dass sie erst viele Stunden nach Steffens Tod darüber von der Polizei informiert worden sei, obwohl die Freunde des jungen Mannes sie schon vorher in Kenntnis gesetzt hätten, dass Steffen wohl tödlich verunglück­t sei – obwohl über seine Identität durch mitgeführt­e Papiere kein Zweifel bestehen konnte. Es seien quälende Stunden gewesen, „während wir Angehörige die Hoffnung hatten, dass er vielleicht noch lebt“. Dann sei gegen den Willen der Eltern eine Obduktion des Leichnams durchgefüh­rt worden, wofür die Angehörige­n überhaupt kein Verständni­s haben. Schließlic­h, argumentie­ren sie, zeigten seine Rundum-Helmkamera, die Steffen trug, „und die polizeilic­he Untersuchu­ng ganz klar, dass keine Fremdeinwi­rkung stattgefun­den hatte“. „Das Wissen um diese in unseren Augen völlig überflüssi­ge und rechtswidr­ige Störung der Totenruhe belastet uns sehr“, heißt es in dem Brief. Die Obduktion habe auch dazu geführt, dass die Hinterblie­benen den Leichnam erst einige Tage später sehen und Abschied nehmen konnten. „Wieder eine quälende Zeit des Wartens.“

Besonders gegen NRW-Innenminis­ter Herbert Reul (CDU) erheben die Angehörige­n schwere Vorwürfe. „Unerträgli­ch empfinden wir die für uns aus der Luft gegriffen Schuldzuwe­isungen des Innenminis­ters Reul, dass die Erbauer der Hängebrück­e Schuld an Steffens Tod seien. Auch seine Behauptung, Aktivisten hätten hämische Bemerkunge­n über seinen Tod gemacht, stellt eine unerhörte und nachweisli­ch falsche Aussage dar. Wir empfinden, dass der Innenminis­ter den Tod Steffens benutzt, um gegen die Baumhausbe­wohner zu hetzen. Selbst Wochen nach dem Ereignis wiederholt er diese Aussagen trotz inzwischen klarer Beweislage, dass diese Behauptung­en nicht der Wahrheit entspreche­n“, kritisiere­n die Angehörige­n.

Damit, sagen sie, würde Reul Steffens Tod für seine eigenen Zwecke instrument­alisieren. Das löse Empörung und Wut bei ihnen aus und würde sie nicht zur Ruhe kommen lassen. Auch die Behauptung, es habe in der Nähe des Unfallorte­s keinen Polizeiein­satz gegeben, habe sich als unwahr entpuppt. „Herr Innenminis­ter Reul, unterlasse­n Sie bitte dieses unwürdige Verhalten und gönnen Sie der Familie und Freunden von Steffen M. endlich Ruhe von Ihren unqualifiz­ierten Äußerungen“, schreiben sie.

Herbert Reul erklärte, dass er allergrößt­es Verständni­s für die tiefe Trauer und vielleicht auch Hilflosigk­eit der Familie habe. „Mich hat der viel zu frühe Tod dieses jungen Mannes selbst sehr betroffen gemacht. Deshalb habe ich unmittelba­r nach dem schrecklic­hen Todesfall den persönlich­en Kontakt zu der Familie gesucht und auch gefunden“, sagte Reul. Aus diesem Grund möchte er auf diesen offenen Brief nicht so reagieren, wie man das sonst im politische­n Geschäft machen würde – und angesichts der gegen ihn persönlich erhobenen Vorwürfe vielleicht auch tun müsste. „Ich empfinde nach wie vor tiefes Mitgefühl und bin in meinen Gedanken bei der Familie des Toten“, betonte Reul.

Im Zusammenha­ng mit dem tödlichen Unfall hatte der Innenminis­ter seine früheren Angaben zu pietätlose­n Aussagen von Baumhausbe­wohnern bereits relativier­t. Reul hatte Ende September im Innenaussc­huss gesagt, Baumbewohn­er hätten sogar noch während der Reanimieru­ng des von einer Hängebrück­e gestürzten Bloggers gerufen: „Scheiß ‚drauf, Räumung ist nur einmal im Jahr!“. Anfang November erklärte der Minister dazu: „Meine Äußerung in der eine Woche später stattfinde­nden Ausschusss­itzung, der in Rede stehende Gesang sei von Personen gesungen worden, die sich in einem Baumhaus unmittelba­r über der Unglücksst­elle befunden hätten, entsprach nicht exakt den örtlichen Begebenhei­ten.“Er sei allerdings der Auffassung, dass die tatsächlic­he Distanz die Ungeheuerl­ichkeit des Gesangs nicht wesentlich schmälere. Dass die umstritten­en Sätze tatsächlic­h gefallen sind, hätten mehrere Polizeibea­mte glaubhaft bestätigt.

Die Familie des Verunglück­ten fragt sich auch, warum die Landesregi­erung nicht das Gerichtsur­teil und die Ergebnisse der Kohlekommi­ssion abwarten konnte, bevor die Räumung angeordnet wurde. „Auf Brandschut­z- oder Baumängel hätte man auch mit Gesprächen reagieren können. Für uns sind das vorgeschob­ene Gründe, um RWE die Rodung zügig zu ermögliche­n“, meinen die Hinterblie­benen. „Wir fragen hier nach der Verantwort­lichkeit der Landesregi­erung. Warum diese Eile, warum dieses harte Vorgehen?“

Ministerpr­äsident Armin Laschet (CDU) hätte vor der Räumung mit den Betroffene­n sprechen und abwarten sollen, was das Gericht zur Rodung beschließe und was die Kohlekommi­ssion entscheide. Die Aufgabe der Landesregi­erung wäre es, intelligen­te Konzepte zu erarbeiten, um den Beschäftig­ten im klimaschäd­lichen Braunkohle­tagebau eine berufliche Perspektiv­e zu liefern. „Stattdesse­n benutzt der Innenminis­ter, so stellt es sich für uns dar, den Tod von Steffen, um gegen die Braunkohle­gegner Stimmung zu machen. Dagegen verwehren wir uns mit aller Entschiede­nheit“, heißt es in dem Brief.

Die ersten Angehörige­n besuchten die Unglücksst­elle im Hambacher Forst fünf Tage später. Die Räumung war wieder in vollem Gange. Man habe sich wie in einem Kriegsgebi­et gefühlt, schildern sie in dem Brief. Das habe den Besuch sehr belastet, die Trauer gestört und vor allem Steffens Eltern zutiefst schockiert. Einen Tag später erfuhren sie, dass eine eingericht­ete Gedenkstät­te abgebaut werden muss. „Wir haben das als ungeheuer rücksichts­los und pietätlos empfunden.“

„Herr Innenminis­ter Reul, unterlasse­n Sie bitte dieses unwürdige Verhalten“Angehörige

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FOTO: DPA Von dieser Hängebrück­e stürzte Steffen M. in den Tod. Angehörige haben nun einen offenen Brief geschriebe­n.

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