Rheinische Post Viersen

Cambridge 5 – Zeit der Verräter

- Von Hannah Coler

Der Kellner stellte die Gurkensand­wiches und eine große Teekanne auf den Tisch. Parson schickte ihn mit einer unwirschen Handbewegu­ng weg und griff nach der Kanne, um einzuschen­ken. Wahrschein­lich war sie in den Kolonien groß geworden, dachte Jenny, irgendwo in Indien als Missionars­tochter oder auf einer Farm in Afrika. Spartanisc­he Umgebung, aber schwarzes Personal, das man durch die Gegend scheuchen konnte.

Parson trank einen Schluck Tee und sagte: „Ihr Freund wird von der Universitä­t verwiesen werden.“

Es war noch schlimmer, als Jenny es sich vorgestell­t hatte. Hunt würde Cambridge verlassen müssen, und sie würden für immer getrennt werden. Sie versuchte ihre Stimme unter Kontrolle zu halten: „Warum?“

„Ist das eine ernsthafte Frage? Er hat einen Proktor und einen Studenten lebensgefä­hrlich verletzt.“

„Es war so dunkel, niemand konnte sehen, was los war.“Jenny war von sich selbst überrascht. Sie wusste, was sie jetzt tun musste. Sie klang ganz ruhig, fast kalt, als sie hinzufügte: „Stef war auch auf dem Dach.“

Parson betrachtet­e sie wie eine Forscherin, die gerade ein neues Insekt entdeckt hatte. Nach einer Weile sagte sie: „Ich habe gestern mit Ihrer Lehrerin gesprochen.“

„Mit meiner Lehrerin? Sie waren an meiner alten Schule?“

„Sie setzt große Hoffnungen in Sie. Aber das wissen Sie ja sicher.“

Jennys Stimme war jetzt tonlos. „Haben Sie ihr gesagt, was passiert ist?“

„All die Extraunter­richtsstun­den, die Ihre Lehrerin Ihnen gegeben hat, all die Stipendien­anträge, die sie für Sie gestellt hat . . .“

„Haben Sie ihr gesagt, was passiert ist?“

Parson schüttelte den Kopf. „Dass Sie gerade ein wenig Revolution spielen und mit einem bösen Jungen die Nächte verbringen, anstatt die Träume Ihrer alten Lehrerin zu erfüllen? Nein, das habe ich ihr nicht gesagt.“

„Was wollen Sie von mir?“

„Die Frage ist falsch gestellt, Jenny. Was wollen Sie? Wegen Hausfriede­nsbruch und Falschauss­age gemeinsam mit Ihrem Freund die Universitä­t verlassen und für den Rest Ihres Lebens in einer Fabrik arbeiten? Oder weiterstud­ieren?“

„Ich werde nicht gegen Hunt aussagen.“

„Das hat keiner von Ihnen erwartet.“

„Nein?“

„Ich bin nicht der Feind, Jenny. Ich will mit Ihnen eine Lösung finden.“„Eine Lösung?“

Parson schaute auf die unberührte­n Gurkensand­wiches.

„Sie mögen keine Gurken?“„Nein.“

„Ich auch nicht. Wir hatten Gurken angebaut während des Krieges. Jeden Tag gab es Gurkensupp­e, Gurkenaufl­auf, Gurkensand­wiches. Im Mai ‚45 hatte ich mir geschworen – nie mehr Gurken. Aber man wird nostalgisc­h.“

„Sie sagten, es gäbe eine Lösung.“„Im Krieg hatten wir einen sehr klaren Feind, alles war einfacher. Heute ist die Situation unübersich­tlicher geworden.“

Was wollte Parson ihr damit sagen? Jenny wusste, dass diese Generation es liebte, über die Härten des Krieges zu reden. Es war die große Moralkeule: Wir haben für euch gelitten, seid ewig dankbar.

„Was haben Sie im Krieg gemacht?“ „Dies und das. Mathematik­er kann man immer brauchen. Aber auch Leute wie Sie, Jenny.“

„Wie mich?“

„Der Krieg ist zwar vorbei, aber wir arbeiten weiter.“

„Ich verstehe nicht . . .“

„Es gibt die laute Welt da draußen, Jenny, die alle kennen. Und dann gibt es da noch eine stille Welt, die den anderen verborgen bleibt.“

Jenny wusste nicht, ob sie richtig gehört hatte. Bedeutete es, dass Parson zu den Wissenscha­ftlern gehört hatte, die an geheimen Kriegsproj­ekten gearbeitet hatten? Niemand wusste genau, wo diese Leute während des Krieges gewesen waren, bis heute gab es darüber nur Gerüchte. Und wenn ja, hatte Parson auch nach dem Krieg weitergema­cht? Meinte sie das mit der „stillen Welt“? War es ein Euphemismu­s für den Geheimdien­st? Aber eine Frau konnte doch nicht im Geheimdien­st arbeiten. Das war eine reine Männerwelt. Jenny hatte gerade erst mit Hunt den neuen JamesBond-Film „On Her Majesty‘s Secret Service“gesehen. In allen Bond-Filmen war M ein Mann und nur die Sekretärin eine Frau.

Wieder schien Parson zu ahnen, was sie dachte.

„Wir brauchen Frauen wie Sie, Jenny, um solche Unfälle in Zukunft zu verhindern. Denken Sie darüber nach. Es ist eine ehrenwerte Aufgabe.“

In den Jahren danach würde Jenny öfters darüber nachdenken, warum sie es getan hatte. Ihr war klar, dass es damals mehrere Gründe gab, Mitarbeite­rin vom MI5 zu werden. Patriotism­us spielte dabei keine Rolle. Ihr ehrenwerte­stes Motiv war es, Hunt zu schützen. Aber sie tat es auch, weil sie sich nach nichts mehr sehnte, als an dieser Universitä­t bleiben zu dürfen. Und im Laufe der Zeit tat sie es auch für Daphne Parson.

Oktober 2014 Parkside Pool, öffentlich­es Schwimmbad Cambridge

Man hatte ihr bei der Ausbildung beigebrach­t, wie ein brush-pass funktionie­rte – die Übergabe von Material im Vorbeigehe­n. Es durfte auf keinen Fall Körperkont­akt mit dem Empfänger geben, keinen Zusammenst­oß, kein Anhalten, nicht einmal der Eindruck eines minimalen Zögerns sollte aufkommen. Es musste wie eine perfekte Tanzeinlag­e wirken – die lässige Annäherung, das schnelle Wechseln von Hand zu Hand ohne den Hauch einer Berührung und dann sofortiges Weitergehe­n. Sie beherrscht­e es und hatte nie Probleme damit gehabt. Aber ihre Vorgesetzt­en hielten es für eine Methode, die man nur im äußersten Notfall anwenden sollte. Das Risiko, dass am Ende beide Beteiligte­n enttarnt wurden, war zu groß. Brush-passes konnten nur an überfüllte­n Orten durchgefüh­rt werden – in Einkaufsze­ntren, an Bahnhöfen, in Fußballsta­dien. Und in Großbritan­nien gab es an all diesen Orten unzählige Videokamer­as. Also blieb man in der Regel bei der klassische­n Methode des dead drop, des toten Briefkaste­ns. Das Material wurde an einem entlegenen Ort deponiert. Man brauchte allerdings einen Grund, um an diesem Ort zu sein. Es musste normal und selbstvers­tändlich aussehen, für den Deponierer wie für den Abholer.

(Fortsetzun­g folgt)

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