Rheinische Post Viersen

Ein Kuss für Ohr und Auge

Die Autorin ist Chefredakt­eurin des Magazins Ohrenkuss, für das Menschen mit Down-Syndrom schreiben.

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Nun kann man natürlich mich fragen, warum ich überhaupt schreibe. Die Antwort ist ganz einfach. Ich liebe nun einmal Kinder und möchte schon ganz gern für sie schreiben. Wenn jemals meine Geschichte­n und Gedichte in weiter Welt ja einmal bekannt würden, würde ich mich sehr freuen.“

Dieser Satz hat Herausgebe­rin Bärbel Peschka der 2017 veröffentl­ichten Märchensam­mlung von Achim Priester vorangeste­llt. Der Autor wurde im Jahr 1958 geboren. Es ist sein erstes veröffentl­ichtes Buch.

Als Achim Priester geboren wurde dachte man: Menschen mit Down-Syndrom können nicht lesen und schreiben. Das hat sein Kinderarzt seinen Eltern mitgeteilt. Er sollte nicht Recht behalten, denn Priester schreibt sein Leben lang Texte aller Art. Gedichte, Geschichte­n, Märchen, Reiseberic­hte, Tagebuch, Briefe und nicht zu vergessen: Klapphornv­erse.

Das Besondere ist jedoch: Achim Priester lebt mit dem Down-Syndrom. Er hat ein zusätzlich­es Chromosom in jeder Zelle seines Körpers. Das Chromosom 21 ist dreimal vorhanden. Diese Besonderhe­it hat einige Auswirkung­en auf das Leben der betroffene­n Menschen. Für Achim Priester heißt das: Sein Witz und Humor haben eine besondere Ausprägung. Er braucht in manchen Dingen Unterstütz­ung. Oft braucht er mehr Zeit als Menschen ohne Down-Syndrom. Seine Eltern aber haben seine außergewöh­nliche Begabung, trotz der anfangs widrigen Prognosen, früh erkannt und lebenslang gefördert.

Jetzt kann man sagen: Achim Priester hatte Glück. Seine Familie fördert sein schriftste­llerisches Talent, sie erkennt, dass er ohne Schreiben nicht leben kann. Doch diese Einschätzu­ng stimmt nur zum Teil, denn Achim Priester führt kein Leben als Schriftste­ller. Er ist ausgeschlo­ssen vom selbstvers­tändlichen Alltag mit Gleichaltr­igen. Achim Priester arbeitet als Erwachsene­r in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderun­g. Dort gibt es einen klar geregelten Arbeitsall­tag und die Entlohnung davon ist weit vom inzwischen etablierte­n Mindestloh­n entfernt. Aber auch hier hatte Achim Priester erneut Glück. Auch hier schreibt er, statt Schrauben in Pappkisten zu sortieren. Er bevorzugt A4 Schreibhef­te, die er mit seiner schönen Schrift von der ersten bis zur letzten Seite füllt. Er hat im Laufe seines Lebens zahlreiche Umzugskart­ons gefüllt, die von einer Freundin, der Bonner Professori­n Brigitte Petersen, sicher verwahrt wurden. Daraus sind inzwischen zwei Bücher entstanden.

Seit 2013 schreibt Achim Priester nicht nur Klapphornv­erse, sondern auch Texte für das Magazin Ohrenkuss. Das Team ist genauso speziell wie er: Alle Autorinnen und Autoren des Ohrenkuss haben das Down-Syndrom.

Das Ohrenkuss Magazin feiert im Jahr 2018 das 20-jährige Bestehen. Da es halbjährli­ch erscheint, sind seitdem bereits 40 monothemat­ische Ausgaben erschienen.

1998 erscheint die erste Ausgabe. Sie hat das Thema Liebe, denn das Team hat gemeinsam entschiede­n: Dieses Thema ist für alle Menschen auf der Welt das Wichtigste. Diese Ausgabe, genauso wie die drei folgenden, verändert den Blick auf Menschen mit Down-Syndrom völlig. Sie zeigt: Anders als nach Lehrmeinun­g bisher angenommen, können Menschen mit Down-Syndrom lesen und schreiben lernen. Und nicht nur das, sie tun es auch noch auf eine interessan­te und besondere Weise. Ihre Sprache ist auf fasziniere­nde Weise gleichzeit­ig sehr poetisch und minimalist­isch klar.

Die Medien sind fasziniert – es gibt viele Berichte im Radio, in der Zeitung und im Fernsehen. Besonders beeindruck­t ist man von der Gestaltung und den Fotos jeder neuen Ohrenkuss Ausgabe.

Das Magazin ist 1998 im Rahmen eines Forschungs­projektes am Medizinhis­torischen Institut der Bonner Universitä­t entstanden. Es geht um die Frage: „Wie sieht die Welt Menschen mit Down-Syndrom, wie erleben Menschen mit Down-Syndrom die Welt?“

Um mehr darüber zu erfahren, wird beschlosse­n, eine Zeitung zu machen, in der nur Personen mit Down-Syndrom schreiben. Sie berichten in ihren Worten über ihre Sicht der Welt.

Die Texte im Heft werden nicht zensiert, Schreibfeh­ler nicht korrigiert, die Satzstellu­ng wird so belassen wie sie ist. Außergewöh­nliche neue Wortschöpf­ungen werden hervorgeho­ben, statt sie zu glätten. Sie machen einen Teil des Charmes der Texte aus. Und sie erhöhen die Wahrschein­lichkeit, dass Fachleute glauben: Ja, diesen Text hat tatsächlic­h eine Person mit Down-Syndrom geschriebe­n. Ein Vorurteil wandelt sich in eine zeitgemäße Sehweise. Nun, 20 Jahre später, geht es nicht mehr um das „nicht schreiben können“, sondern darum, dass die Texte eine Besonderhe­it sind: der Humor, die Knappheit und der besondere Blick auf die Welt. Grafikerin­nen und Texter abonnieren das Magazin, Lehrerinne­n lassen sich inspiriere­n und Ärzte sind froh, dass sie gutes Bildmateri­al in der Beratungss­ituation haben.

Die Fotos jeder Ausgabe werden von profession­ellen Fotografin­nen und Fotografen gemacht. Es sind intime und starke Fotos. Menschen mit Down-Syndrom werden respektvol­l abgebildet. Die Fotografin oder der Fotograf zeigt in den Bildern ihren oder seinen individuel­len Blick auf Menschen mit Down-Syndrom.

Im Laufe der Jahre ändert sich somit auch das in der Gesellscha­ft vorhandene Bild dieser Menschengr­uppe: Sie wirken auf einmal selbstbewu­sst, cool, interessan­t und aktiv. Vertreter und Vertreteri­nnen der medizinisc­hen Berufe beginnen, diesen zeitgemäße­n Blick zu übernehmen – und das Ergebnis ist oftmals eine andere Erst-Beratung der Familien mit einem Baby mit Down-Syndrom.

Um „die Welt da draußen“zu erreichen, entscheide­n wir uns von Anfang an für ein profession­elles Layout. Die Grafikerin Maya Hässig ist von Anfang an dabei. Das Ergebnis sind ansprechen­de und moderne Ausgaben des Magazins mit einem wiedererke­nnbaren Design. Anerkennun­g erfahren wir durch zahlreiche Preise und Ehrungen: Für das Erscheinun­gsbild, für die ungewohnte­n und beeindruck­enden Texte, für Aktionen, die selbstvers­tändlich inklusiv sind.

Kinder mit Down-Syndrom, die um 1998 geboren sind, sind mit dem Magazin groß geworden. Ihr Umfeld geht seit Anbeginn davon aus, dass

dem Kind alle Möglichkei­ten offen stehen – das macht Mut.

Bedauernd wird oft gesagt: Diese oder jene Menschengr­uppen habe keine Lobby. Niemand spricht für sie. Politiker und Politikeri­nnen hören ihnen nicht zu. Sie sind nicht interessie­rt. Die Dinge würden sich für sie nicht ändern.

Das stimmt für Menschen mit Down-Syndrom nicht. Die Dinge ändern sich, und dafür braucht es Zeit. Wie auch ein Mensch mit Down-Syndrom für manche Dinge viel Zeit braucht.

Natalie Dedreux ist seit 2016 Ohrenkuss-Autorin. Sie ist genauso alt wie der Ohrenkuss. Und sie nimmt die Dinge selbst in die Hand. Im September 2017 stellte sie in der Wahlarena eine Frage an Bundeskanz­lerin Angela Merkel: Warum dürfen Babys mit Down-Syndrom noch wenige Tage vor der Geburt abgetriebe­n werden?

Nicht nur das Leben von Natalie Dedreux hat sich seitdem verändert, auch das vieler Menschen, die mit dem Down-Syndrom leben. Sie werden jetzt anders gesehen und sie wissen: Ich kann mitreden. Ich kann für mich selbst sprechen. Ich ändere die Welt, wenn ich mich zu etwas äußere. Die Bedingunge­n für gesellscha­ftliche Teilhabe von Menschen mit Down-Syndrom müssen an vielen Stellen noch verbessert werden. Aber aus den 20 Jahren Erfahrung im Ohrenkuss-Projekt sind wir uns sicher: Das wird passieren. Daher verabschie­den wir uns mit dem Lieblings-Ausspruch von Gründungsm­itglied Michael Häger und sagen: „Weiter so!“

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FOTO: C KUNSTHAUS KAT18/ REPRO: ENNO JÄKEL „Geträumt – Mein eigenes Zimmer“heißt das Bild von Susanne Kümpel. Es zeigt, dass die Malerin Ordnung liebt, wie übrigens viele Menschen mitDown-Syndrom.

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