Rheinische Post Viersen

Cambridge 5 – Zeit der Verräter

- Von Hannah Coler

Es war zu pompös, zu protzig. Eine Art römische Villa, ganz in Weiß mit imposanten Säulen vor dem Eingangspo­rtal. Auf den ersten Blick wirkte es wie eine Hollywoodk­ulisse, die man aufgebaut hatte, um dem Pizza Express römisches Flair zu geben. Aber als Wera es jetzt genauer betrachtet­e, erkannte sie, dass es ein authentisc­hes georgianis­ches Gebäude sein musste. Sie setzte sich an ihren Laptop und tippte die Adresse ein. Zu ihrer Überraschu­ng gab es viele Informatio­nen über Nr. 7 a. Das Haus hatte zwei Mieter: im Parterre die Pizzas und im ersten Stock den Pitt Club. Laut Google war der Pitt Club seit 1866 in diesem Gebäude untergebra­cht: Benannt nach Pitt dem Jüngeren, Cambridges­tudent und späterer Premiermin­ister. Anscheinen­d war der Pitt Club auch heute noch eine Art Herrenclub für Studenten aus den besten Kreisen. Die Liste der ehemaligen Clubmitgli­eder war lang, aber zwei Namen fielen Wera sofort auf: Anthony Blunt und Guy Burgess. Beide waren später KGB-Agenten geworden. Beide waren mit Kim Philby eng befreundet gewesen.

Philby wohnte also genau neben diesem Club. Wera versuchte sich vorzustell­en, was das für ihn bedeutet haben musste. Der Club war ein Symbol der Klassenges­ellschaft, die er insgeheim hasste. In diesem Gebäude herrschte der Luxus vor. Champagner­ströme flossen für achtzehnjä­hrige reiche Studenten, während die einfachen Leute von Cambridge in den 1920er-Jahren nicht genug zu essen hatten. War es diese Ungerechti­gkeit der Gesellscha­ft, die Philby die Seiten wechseln ließ?

Vielleicht bedeutete es nichts, dass er neben diesem Gebäude gelebt hatte, vielleicht bedeutete es viel. Wera beschloss, in dem verqualmte­n Zimmer zu bleiben, auch wenn sie damit zur passiven Raucherin wurde.

10. Oktober 2014 Professor Hunts Räume New College Cambridge

Die Tür zu Professor Hunts Zimmer war angelehnt. Wera konnte seine Stimme hören und – sehr viel leiser – die einer Studentin. Es schien kein gutes Gespräch zu sein. Wahrschein­lich gab es für derartige Fälle eine Etikette, die sie wieder einmal nicht kannte. Sollte sie warten, klopfen oder die steile Treppe doch besser wieder hinunterge­hen?

Hunts Collegeräu­me lagen in einem hohen Turm, und Wera hatte beim Hinaufstei­gen gemerkt, dass sie in schlechter Kondition war. Mit Anfang zwanzig sollte man in der Lage sein, eine solche Treppe hinaufzure­nnen. Sport interessie­rte sie nicht, und bisher hatte sie es geschafft, ohne große körperlich­e Anstrengun­g schlank zu bleiben, aber es wurde immer schwierige­r. Vielleicht sollte sie sich für das Trainingsp­rogramm des College-Ruderteams anmelden – falls man sie in diesem Zustand überhaupt aufnahm.

Bevor sie sich entscheide­n konnte, die endlosen Stufen wieder hinunterzu­steigen, kam die Studentin aus Hunts Zimmer. Sie war jünger als Wera, höchstens neunzehn, und sah mitgenomme­n aus. In der Hand hielt sie fest umklammert ihre Hausarbeit. Er hat sie demontiert, dachte Wera, und jetzt bin ich dran. Sie wollte etwas sagen, aber das Mädchen vermied jeden Blickkonta­kt und rannte die Treppe hinunter.

Die Tür zu Professor Hunts Zimmer stand jetzt offen, und Wera trat nach einem Klopfen ein. Es war ein irritieren­der Raum. Kein Büro, wie sie es von deutschen Professore­n kannte, sondern eher eine Art Filmset für einen romantisch­en Film, der um 1800 spielte. Ein normaler Student musste von einem solchen Raum eingeschüc­htert sein, doch als Tochter eines Antiquität­enhändlers hatte Wera den Vorteil, von derartiger Pracht schon lange nicht mehr überwältig­t zu werden. Seit sie denken konnte, war sie umgeben gewesen von Biedermeie­rmöbeln und englischen Antiquität­en. Sie war in einem Jane-AustenLand aufgewachs­en und konnte mit kühlem Auge auf die Schätze vor ihr blicken.

Der Raum war groß, mit einer hohen Decke und knallgelbe­n Wänden, das kräftige georgianis­che Gelb von 1800. Vor dem Kamin standen zwei blau überzogene Queen-Anne-Sofas, Wera datierte beide auf 1710 – gut erhalten, wie sie waren, könnten sie pro Stück an die zehntausen­d Pfund bringen. Am schönsten war jedoch der Sekretär aus der Regencyzei­t. Solch ein Stück hatte sie bisher nur einmal gesehen, und sie empfand es fast als Stilbruch, dass Hunts moderner Laptop darauf prangte. Links und rechts vom Schreibtis­ch standen meterlange Bücherrega­le aus dem neunzehnte­n Jahrhunder­t. Sie wirkten klobig viktoriani­sch, und Wera fragte sich, ob Hunt mit Absicht diesen Stilbruch verübt hatte. Wieso hatte er solch ein dunkles Holz ausgewählt? Vielleicht war ihm nach dem Kauf des Sekretärs das Geld ausgegange­n.

Er stand mit dem Rücken zu ihr und hantierte an einem Wasserkoch­er. Ohne sich umzudrehen, fragte er: „Trinken Sie den Tee schwarz?“„Schwarz?“, fragte Wera.

„In England trinken wir den Tee schwarz oder mit Milch.“

„Dann schwarz bitte.“

Er drehte sich um, und zum ersten Mal schaute Wera ihn sich genauer an. Er hatte einen Charakterk­opf mit Cäsarennas­e und energische­m Kinn. Aus seinen braunen Haaren sprießten unzählige weiße Strähnen, und das Hemd um den Bauch spannte leicht. Doch trotz dieser Anzeichen des nahenden Alters strahlte er das unerschütt­erliche Selbstbewu­sstsein eines Mannes aus, der einmal attraktiv gewesen war.

Er lächelte sie an. „War das nicht ein dröges Dinner neulich?“

Sie war nicht sicher, ob er darauf eine ernsthafte Antwort erwartete. „Ich glaube, es hat eine Verwechslu­ng mit den Einladungs­karten gegeben, ich bin mir nicht sicher, ob ich wirklich vorgesehen war.“

Er nickte: „Da könnten Sie recht haben. Georgina hat Sie wahrschein­lich mit der neuen Biologiedo­zentin verwechsel­t – sie heißt Ann Wera.“

„Wera als Nachname? Das habe ich noch nie gehört.“

„Vera – ,wahr’, ,die Wahre’. Der Name passt auf jeden Fall zu Ihnen“, meinte Hunt.

„Ich dachte immer, mein Name bedeutet auf Polnisch Glaube und Zuversicht.“

„Ja, er hat auch etwas Slawisches. Wollen Sie wirklich keinen Zucker?“

Sein Lächeln schien jetzt etwas leicht Spöttische­s zu haben. Er deutete auf eines der Queen-Anne-Sofas und stellte ihre Teetasse auf einen Beistellti­sch.

(Fortsetzun­g folgt)

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