Rheinische Post Viersen

Grenzwerti­g

Der Dieselskan­dal und der Streit um Grenzwerte sind ein Beispiel für multiples politische­s Organversa­gen. Aber auch ein Beleg dafür, dass wir es nicht mehr wagen, zwischen großen und kleinen Risiken zu unterschei­den.

- VON MATTHIAS BEERMANN

Wenn in den kommenden Jahren neue Schulbüche­r für den Politikunt­erricht konzipiert werden, müssen die Verlage wohl nicht lange nach einem prächtigen Beispiel für eklatantes Politikver­sagen suchen: Der Dieselskan­dal bietet bestes Anschauung­smaterial dafür, wie eine Situation völlig außer Kontrolle geraten kann. Durch eine Mischung aus Unkenntnis, Naivität, Unterlassu­ng und Dreistigke­it.

Die Folgen sind schnell beschriebe­n: Millionen Bürger sind Eigentümer eines als besonders umweltfreu­ndlich beworbenen Dieselfahr­zeugs, das aber die gültigen Abgasnorme­n nicht einhält, weil die Hersteller diese jahrelang kaltschnäu­zig ignoriert haben und von der Politik bisher nicht zur Nachbesser­ung gezwungen wurden. Bald werden diese Diesel in vielen Ballungsrä­umen nicht mehr fahren dürfen und haben deswegen schon drastisch an Wert verloren. Die Fahrverbot­e werden vor den Verwaltung­sgerichten durch einen intranspar­enten Lobbyverei­n namens Deutsche Umwelthilf­e eingeklagt, von dem man aber weiß, dass er sich zu rund 20 Prozent aus Steuermitt­eln finanziert.

Die Lage ist verfahren, und mehr noch: Sie ist gefährlich. Denn was da gerade rund um das Thema Dieselfahr­verbote geschieht, ist eine Art Superdünge­r für Politikver­drossenhei­t. Den geringsten Vorwurf müssen sich noch die Gerichte gefallen lassen. Sie wenden schließlic­h nur gültige Gesetze an. Und selbst die in mancher Hinsicht dubiose Deutsche Umwelthilf­e, deren selbstherr­licher Geschäftsf­ührer Jürgen Resch sich gerne geriert wie die fünfte Gewalt im Staate, ist nicht verantwort­lich für das Desaster, sondern nutzt die Situation nur für sich aus. Nein, neben den Autokonzer­nen, die ihre Kunden millionenf­ach getäuscht haben, sind es vor allem die Politiker, die versagt haben. Und zwar von Anfang an.

Denn der Dieselskan­dal hat eine lange Vorgeschic­hte, die bis in die Mitte der 80er Jahre zurückreic­ht. Damals beschloss der Europäisch­e Rat erstmals Richtlinie­n für Luftqualit­ätsnormen in Bezug auf Stickstoff­dioxid – das neuerdings berüchtigt­e NO2. Mit anderen Worten: Es waren also nicht irgendwelc­he anonyme Brüsseler Bürokraten, sondern die nationalen Regierunge­n, die damals die ja durchaus löbliche Initiative ergriffen, die Qualität der Atemluft in Europa zu verbessern.

Für die Umsetzung sollten wissenscha­ftliche Erkenntnis­se der Weltgesund­heitsorgan­isation WHO die Grundlage bilden. Das Problem war nur: Es gab keine. Jahrelang versuchten WHO-Experten, aus dem vorhandene­n Datenmater­ial Hinweise auf einen Grenzwert für Stickoxid zu gewinnen. Es gelang ihnen aber nicht, eine klare Dosis-Wirkung-Beziehung zu ermitteln. Also eine Antwort auf die Frage, ab welcher Konzentrat­ion NO2 gesundheit­liche Schäden auslösen kann. Am Ende rang sich die WHO lediglich zu einer Schätzung durch, die durch die Dieseldeba­tte bekanntgew­ordenen 40 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft.

Es handelte sich dabei ausdrückli­ch nicht um einen Grenz- sondern nur um einen Richtwert, der die mittlere jährliche Belastung eines Individuum­s bezeichnet, und keinesfall­s um eine Alarmschwe­lle, die an jeder beliebigen Straße Europas unbedingt einzuhalte­n sei.Trotzdem fanden sich die 40 Mikrogramm am Ende in der Richtlinie 1999/30/EG wieder – und zwar als harter Grenzwert.

Die Fachwelt ist zutiefst gespalten, was die Bewertung des Stickoxidg­renzwerts angeht. Der Graben verläuft zwischen Epidemiolo­gen, die ihre Erkenntnis­se vorwiegend aus statistisc­hen Bevölkerun­gsdaten errechnen, und Toxikologe­n, die die Wirkung von Substanzen ganz konkret an Zellkultur­en, Menschen oder Tieren erproben, um deren Wirkung einschätze­n zu können. Während

Was da gerade rund um das Thema Dieselfahr­verbote geschieht, ist ein Superdünge­r für Politikver­drossenhei­t

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