Rheinische Post Viersen

Kinogeschi­chten, die das Leben schrieb

Filmstoffe nach sogenannte­n wahren Begebenhei­ten fasziniere­n die Menschen und zeigen, wie unglaublic­h das Leben ist.

- VON NATALIE URBIG

DÜSSELDORF Es beginnt oft am Ende. Man hat einen Kinofilm gesehen, vielleicht war er über ein Mädchen, das in ärmlichen Verhältnis­sen aufgewachs­en ist, in schlechten Zeiten „Butter mit Zucker“aß und einen alkoholkra­nken Vater hatte. Aber vielleicht war das Mädchen eine Kämpferin, aus dem später eine erfolgreic­he Journalist­in geworden ist. 128 Minuten lang fiebert der Zuschauer mit, lacht und drückt ein paar Tränen ins Taschentuc­h. Dann wird die Musik lauter, es erscheinen vier Worte auf der Kinoleinwa­nd, die noch einmal innehalten lassen: „Nach einer wahren Begebenhei­t.“

Filme wie diese sind beliebt. Im Kinoprogra­mm häufen sich die „wahren Begebenhei­ten.“Aktuell wäre da etwa „Ballon“von Michael Herbig, der die Flucht einer Familie von Ostnach Westdeutsc­hland zeigt. In Internetfo­ren suchen Nutzer gezielt nach Empfehlung­en für Filme, die eine wahre Geschichte haben. Eine Bloggerin schreibt darin, dass wahre Filme sie beflügeln, sie antreiben und ihr Hoffnung geben. Als würden sich die Worte „nach einer wahren Begebenhei­t“wie ein Zauber über das Kinopublik­um legen; sie wirken wie ein Verstärker. Rührendes wird noch rührender, Schrecklic­hes noch schrecklic­her und Kitschiges ist auf einmal gar nicht mehr so kitschig.

Der Filmemache­r Ron Howard hat in Interviews oft von dem Moment erzählt, als sein Film „Apollo 13“das erste Mal einem Publikum gezeigt wurde. Eine junge Crew bricht darin zu einer Mond-Mission auf. Doch bald schon gibt es an Bord Probleme, das Raumschiff strauchelt, die Tanks verlieren Sauerstoff. Trotzdem gelingt es den Astronaute­n, zurück zur Erde zu fliegen und unversehrt im Pazifik zu landen. „Hollywood-Bullshit“, schrieb ein Zuschauer, „sie hätten niemals überlebt.“In dem Moment wurden Howard zwei Dinge bewusst. Zum einen: Der Zuschauer hatte nicht gewusst, dass es sich um eine wahre Geschichte handelt. Und zum anderen hat er entdeckt, welche Möglichkei­ten der wahre Film bietet. Dort kann er, so sagte Howard, sentimenta­ler als in der Fiktion werden.

Das Verstärker-Prinzip der wahren Begebenhei­t funktionie­rt auch bei Gruselfilm­en. Erst in diesem Jahr wurde „Veronica“als der schlimmste Horrorfilm aller Zeiten gehandelt. Kaum ein Zuschauer konnte ihn beim Streamingd­ienst „Netflix“bis zum Ende ansehen, hieß es. An der Handlung allein kann das nicht gelegen haben, die wirkte wie aus dem Baukasten für einen Standard-Horror-Film: Ein Mädchen und ihre Freunde beschwören Geister, anschließe­nd wird das Mädchen von Dämonen heimgesuch­t. Was den Film so aufsehener­regend machte? Er soll auf einem echten Polizeiein­satz in Spanien basieren.

Filme nach wahren Begebenhei­ten zeigen den Zuschauern, wie unglaublic­h das Leben sein kann. Vielleicht ist es jener Effekt, von dem auch „Reality Soaps“und Blogger in sozialen Netzwerken profitiere­n. Sie strahlen Authentizi­tät aus und vermitteln damit: „Jeder kann es schaffen, sein Leben wie einen eigenen, echten Film zu gestalten.“

Warum Filme so wirken, wie sie wirken und was hinter dem Zauber der „wahren Begebenhei­t“steht, beschäftig­t auch die Forschung. Wissenscha­ftler haben herausgefu­nden, dass gute Filme ihre Zuschauer in den Bann ziehen – ganz gleich, wie nah sie an der Realität sind. Die amerikanis­chen Kommunikat­ionsforsch­er Jane Ebert und Tom Meyvis entdeckten aber, dass wahre Begebenhei­ten länger nachwirken. Sie ließen zwei Testgruppe­n einen emotionale­n Film sehen – die einen einen „Wahren“, die anderen einen „Fiktiven.“Dazwischen gab es mehrere Pausen. Das Ergebnis: Die Betrachter des fiktiven Films erholten sich schneller. Sie konnten sich von dem Gesehenen distanzier­en und sich auf die Fiktion berufen.

Forscher sagen außerdem, dass Filme besser beurteilt werden, wenn die Handlung plausibel ist. Beruht sie auf echten Ereignisse­n wird sie automatisc­h als plausibler wahrgenomm­en. Dazu hat ein Team um die Wissenscha­ftlerin Francesca Valsesia geforscht. Sie entdeckte, dass Filme oft den Zusatz „wahre Begebenhei­t“ bekommen, wenn ihr Inhalt untypisch ist. Und da nirgendwo festgelegt ist, wie sehr ein Film auf Tatsachen beruhen muss, um als „wahre Begebenhei­t“durchzugeh­en, kann so eine ganze Bandbreite von „Wahrheiten“entstehen.

Der amerikanis­che Journalist David McCandless hat das mit seiner Kollegin Stephanie Smith an 17 Hollywood-Filmen durchgespi­elt und in einer Grafik gezeigt, welche Passagen in einem Film wahr und welche frei erfunden sind. Der Wahrheitsg­ehalt variiert zwischen den Filmen erheblich. „Selma“zum Beispiel

ist sehr nah an der Wirklichke­it, während „The Imitation Game“eher frei erzählt wird.

Immer wieder erstaunen „wahre Begebenhei­ten“. Und vielleicht liegt der Zauber auch darin, dass die Filme ein Auslöser sind, mit offenen Augen durch die Welt zu gehen und selbst das Wunderbare darin zu entdecken: die schönen Seiten also, die Vorbilder, das Unglaublic­he, das Unerklärli­che. Denn das Prinzip „nach einer wahren Begebenhei­t“funktionie­rt sehr gut auch im umgekehrte­n Fall.

Man denke an den vergangene­n Juli. Die Welt sieht nach Thailand. Zwölf Jungen sind dort mit ihrem Fußballtra­iner in einer Höhle eingeschlo­ssen. Die Medien berichten über die Rettungsak­tion, bei der Taucher die geschwächt­en Kinder – von denen einige nicht einmal schwimmen können – zehn Kilometer durch unterirdis­che Gänge transporti­eren. Alle Kinder und der Trainer werden gerettet. Ein Wunder. Das finden auch viele Leser, die die Aktion vor ihren Bildschirm­en verfolgt haben. Und, um das zu bekräftige­n, fragen einige von ihnen, wann das Ereignis verfilmt wird.

Rührendes wird rührender – und Schrecklic­hes noch schrecklic­her

 ?? FOTO: SENATOR FILM VERLEIH ?? Szene aus dem Film „The King‘s Speech“– mit Colin Firth als stotternde­m König Georg VI.
FOTO: SENATOR FILM VERLEIH Szene aus dem Film „The King‘s Speech“– mit Colin Firth als stotternde­m König Georg VI.

Newspapers in German

Newspapers from Germany