Rheinische Post Viersen

Kraftquell­e Provinz

- VON REINHOLD MICHELS

Entsetzens-Seufzer eines Kölner Bürgers aus der gehobenen Mittelschi­cht, dessen berühmte Stadt 1815 auf einmal zur preußische­n Provinz gehörte, oder vielmehr mit dem Königreich Preußen als Teil der „Rheinprovi­nz“zwangsvere­inigt wurde: „Jesses, Maria, Josef! Do hierode mer in en ärm Famillich.“

Ähnlich skeptisch wie der Bankier Abraham Schaaffhau­sen betrachtet­en viele rheinische Provinzler seinerzeit die Entscheidu­ng des Wiener Kongresses 1814/15, der nach Napoleons Herrschaft die neue Ordnung in Europa gestaltet hatte. Die neuen ostelbisch­en Herren über die ferne Rheinprovi­nz saßen nun in Berlin.

Die Stadt an der Spree war aus Sicht der wohlhabend­en Kölner und sonstigen Rheinlände­r schon damals bedürftig und nicht einmal „sexy“, wie es heute Berliner lokalpatri­otisch-metropolit­an propagiere­n. Berlin war das aufstreben­de, auftrumpfe­nde Zentrum des durch allerlei Kriege hochversch­uldeten, im märkischen Sand gründenden Königreich­s Preußen.

Die Skepsis der Provinzler im tiefen Westen gegenüber dem Gernegroß im Osten hatte neben ökonomisch­en auch allgemeinp­olitische und konfession­elle Gründe. Man blieb sich fremd. Dass Kölns prägendste­r Oberbürger­meister, der erste Bundeskanz­ler Konrad Adenauer, zeitlebens eine Aversion gegen Preußen im Allgemeine­n und Berlin im Besonderen empfunden habe, ist mehr als eine der vielen Anekdoten über den „Alten von Rhöndorf“, der seinen privaten Lebensmitt­elpunkt in einem bürgerlich-behagliche­n Haus am Fuß des Siebengebi­rges hatte.

Die überschaub­are Residenzst­adt Bonn als Arbeitsort des gebürtigen Kölners Adenauer und das Städtchen Rhöndorf zehn Kilometer weiter südlich als „Home, sweet home“– ein anschaulic­heres Beispiel für gediegenes Leben und Wirken in der Provinz lässt sich kaum finden. Deutschlan­d hat zwar seit fast drei Jahrzehnte­n wieder „eine richtige Hauptstadt“, wie es nach dem Mauerfall 1989 Berlins Regierende­r Bürgermeis­ter Walter Momper fordernd und großmäulig ausdrückte, aber Deutschlan­ds wirtschaft­liche Stärke, seine architekto­nischen, wissenscha­ftlichen und landsmanns­chaftliche­n Besonderhe­iten rühren zu einem Großteil von der Kraft seiner vielfältig­en Provinzen her.

Zugegeben: Manche davon, etwa im Nordosten, sind im eher negativen Sinne „tiefste Provinz“: kulturell unterverso­rgt, belanglos, intellektu­ell wenig anspruchsv­oll und inspiriere­nd schon gar nicht; andere Provinzen hingegen strotzen vor wirtschaft­licher Gesundheit, geistiger Regsamkeit, unternehme­rischer Findigkeit, Lebensfreu­de. Als der baden-württember­gische Ministerpr­äsident Erwin Teufel (1991– 2005) einmal im Hubschraub­er von der Landeshaup­tstadt Stuttgart nach Ravensburg nahe dem Bodensee unterwegs war, zeigte er seinem Besucher aus dem Rheinische­n im Überflug und Überschwan­g die vielen Erfolgsstä­tten seines mittelstän­disch geprägten und wohlstands­gesättigte­n Landes im Südwesten. Das Lobwort von den „Hidden Champions“, fiel, also denjenigen Firmen, die eher im Verborgene­n blühenden Pflanzen gleichen, die in der Provinz beheimatet sind und in die Welt hinauswach­sen. „Wir müssten eigentlich in Baden-Württember­g viel mehr die Glocken läuten, so wie das erfolgreic­he Bayern es tut“, meinte Teufel, der ungemein tüchtige Provinzler aus dem Schwäbisch­e-Alb-Nest Spaichinge­n, der oft zum Dienst in Stuttgart die schwäbisch­e Eisenbahn nahm.

Mehr Sein als Schein – so könnte das Motto der deutschen Provinz heißen. Als sich neulich in einem anmaßend und hochmütig klingenden „Spiegel“-Artikel über die sauerländi­sche Heimat von Friedrich Merz der nicht untypische Hamburg-Dünkel ausdrückte, antwortete ein bekennende­r Sauerlände­r unter anderem mit dem Verweis auf die ellenlange

Mehr Sein als Schein – so könnte das Motto der deutschen Provinz heißen

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