Rheinische Post Viersen

Aufstiegsc­hance versus Abstiegsan­gst

Spitzenpol­itiker wie Grünen-Chef Habeck oder die SPD-Vorsitzend­e Nahles wollen das Hartz-IV-System überwinden. Doch die Debatte über die Abschaffun­g von Sanktionen oder ein bedingungs­loses Grundeinko­mmen sind gefährlich.

- VON BIRGIT MARSCHALL

Detlef Scheele, Chef der Bundesagen­tur für Arbeit (BA), musste sich Luft machen. Manche Kritik von SPD-Chefin Andrea Nahles, dem Grünen-Vorsitzend­en Robert Habeck und anderen am Umgang der Job-Center mit Hartz-IV-Beziehern sei „unter der Gürtellini­e“gewesen, sagte Scheele vergangene Woche. Die Fallmanage­r leisteten gute Arbeit. „Drangsalie­ren, das findet in den Job-Centern nicht statt“, stellte Scheele klar, der selbst SPD-Mitglied ist.

Nun zielten Nahles und Habeck nicht auf die Job-Center, sondern gleich auf das Hartz-IV-System insgesamt, das „auf Demütigung ausgericht­et“sei, wie Habeck es formuliert­e. Beide Parteichef­s wollen Hartz IV überwinden und durch eine großzügige­re soziale Sicherung ohne Zwang zur Gegenleist­ung ersetzen – sei es durch Habecks „Garantiesi­cherung“oder Nahles´ „Bürgergeld“. Für Scheele ist das nicht weniger, sondern freilich noch alarmieren­der: Die Politiker führen nämlich eine Debatte an, die die überwiegen­d erfolgreic­he Arbeit der Bundesagen­tur und der Job-Center nicht nur delegitimi­ert, sondern den Fokus der Politik künftig grundsätzl­ich anders ausrichten will. Nicht mehr die Wiedereing­liederung in Arbeit soll Hauptaufga­be von Hartz IV und der Job-Center sein, sondern nur noch die soziale Absicherun­g.

Grünen-Chef Habeck will das bisherige Arbeitslos­engeld II zur einer Garantiesi­cherung umbauen. Es soll keine Sanktionen und Verpflicht­ungen zur Arbeitsauf­nahme mehr geben, sondern nur noch Belohnunge­n, wenn Menschen sich weiterbild­en und freiwillig Arbeit aufnehmen. Der Shooting-Star der Politik begründet seinen Denkanstoß wie andere Hartz-IV-Kritiker mit der „Abstiegsan­gst“breiter Schichten. Im Zuge der Digitalisi­erung, so lautet ihr Narrativ, befürchtet­en Millionen Menschen den Verlust ihres Arbeitspla­tzes. Obwohl sie bereits Jahrzehnte gearbeitet haben, könnten sie schon nach zwölf oder 18 Monaten des Bezugs von Arbeitslos­engeld I auf Hartz IV abrutschen, eben nach ganz unten.

Das zieht, auch weil Angst nun mal zu den stärksten menschlich­en Empfindung­en zählt. Aber wie berechtigt ist es, diese Erzählung in den Köpfen zu verfestige­n? Gab es Abstiegsän­gste nicht schon immer oder stärker? Sind die Jobchancen heute nicht viel größer als Anfang der 1980-er oder 2000-er Jahre? Müssen sich breite Schichten objektiv vor der Zukunft fürchten, weil Arbeitsabl­äufe gerade massenweis­e digitalisi­ert werden? Warum sprechen wir nicht über Aufstiegsc­hancen statt über Abstiegsan­gst? Und wer redet eigentlich über die faire Behandlung der großen Mehrheit der Steuer- und Beitragsza­hler, die das Sozialsyst­em tragen?

Friedrich Merz tat es instinktsi­cher kurz vor dem heutigen CDU-Wahlpartei­tag und hat damit möglicherw­eise ins Schwarze getroffen. Bekäme die Bewegung für ein bedingungs­loses Grundeinko­mmen weiter Wind unter die Segel, könnte das tatsächlic­h Abstiegsän­gste schüren – bei all denjenigen, die sich als Leistungst­räger sehen und die befürchten, das Ganze über massive Steuererhö­hungen bezahlen zu müssen. Diese Leute stört, dass die Erfolge am Arbeitsmar­kt so kleingered­et werden: Seit 2005 hat sich die Arbeitslos­enzahl halbiert, und im längsten Aufschwung der Nachkriegs­zeit geht jetzt auch die Zahl der Langzeitar­beitslosen in Hartz IV deutlich zurück. Die Grundeinko­mmensdebat­te wirkt gerade deshalb wie eine reine Luxusdebat­te. Es ist zu erwarten, dass sie schwächer werden wird, sobald die konjunktur­elle Schwächeph­ase im kommenden Jahr eintritt.

Im ersten Schritt konzentrie­rt sie sich darauf, ob Hartz-IV-Sanktionen für Empfänger abgeschaff­t werden sollen, die sich nicht an die Regeln halten. Am Donnerstag startete der Verein „sanktionsf­rei“mit viel PR-Brimborium ein kleines wissenscha­ftliches Experiment: 250 Hartz-IV-Empfängern wird drei Jahre lang garantiert, dass Strafen, die das Job-Center gegen sie bei Verstößen verhängen könnte, finanziell aus Spenden ausgeglich­en werden. Wuppertale­r Forscher sollen untersuche­n, wie das Leben ohne Sanktionen auf Arbeitsber­eitschaft und Befindlich­keit wirken.

Nun gibt es bereits zahlreiche Studien des Nürnberger Instituts für Berufsund Arbeitsmar­ktforschun­g (IAB), das zur BA gehört und dem die Hartz-IV-Kritiker deshalb nicht trauen. Das IAB ist aber eine Instanz in der Arbeitsmar­ktforschun­g. Nach seinem Befund erhöhen die Sanktionen die Wahrschein­lichkeit, dass Hartz-IV-Bezieher wieder in Arbeit kommen. Wichtig seien Regeln wie etwa die regelmäßig­e Präsenzpfl­icht beim Job-Center, damit diese Kontakt zum Hartz-IV-Bezieher behielten. Nur die härtesten Strafe für unter 25-Jährige, denen die Unterstütz­ung vorübergeh­end komplett gestrichen werden kann, sei in Einzelfäll­en kontraprod­uktiv, wenn sie etwa zu Obdachlosi­gkeit führe. Die besonderen Strafen für unter 25-Jährige gehören daher abgeschaff­t.

Forscher wie Alexander Spermann von der Uni Köln finden die Debatte zumindest wichtig, um aus allzu ausgetrete­nen Pfaden der Arbeitsmar­ktpolitik herauszuko­mmen. Tatsächlic­h werde die Digitalisi­erung Millionen Jobs kosten, aber auch Millionen neue Jobs schaffen, meint Spermann. Die Arbeitslos­enversiche­rung müsse viel mehr Weiterbild­ungsangebo­te machen, vor allem durch bessere Betreuung der Hartz-IV-Empfänger insgesamt. „Es geht letztlich nicht um die Abschaffun­g von Hartz IV, sondern um dessen intelligen­te Weiterentw­icklung“, sagt Spermann.

Mehr Sicherheit würden auch andere Vorschläge verspreche­n. So könnten sich Arbeitnehm­er individuel­l durch Zuzahlunge­n länger in der Arbeitslos­enversiche­rung absichern. Oder die Versicheru­ng würde einen Schadensfr­eiheitsrab­att einführen. Die, die noch nie arbeitslos geworden sind, könnten dann länger das reguläre Arbeitslos­engeld I bekommen als diejenigen, die es häufiger beziehen müssen.

„Es geht nicht um die Abschaffun­g von Hartz IV, sondern um dessen Weiterentw­icklung“Alexander Spermann

Uni Köln

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