Rheinische Post Viersen

Türkei nimmt Gezi-Bewegung ins Visier

Präsident Recep Tayyip Erdogan will wissen, wer hinter den regierungs­kritischen Massenprot­esten von 2013 steckte. Im Visier: der in Deutschlan­d im Exil lebende Ex-Chef der regierungs­kritischen Zeitung „Cumhuriyet“, Can Dündar.

- VON SUSANNE GÜSTEN FOTO: DPA

ISTANBUL Die türkische Regierung hat eine Abrechnung mit den Gezi-Protesten vom Sommer 2013 eingeleite­t und greift dabei auch Deutschlan­d an. Die Justiz hat Ermittlung­en gegen Hunderte Teilnehmer der damaligen Demonstrat­ionen aufgenomme­n und einen neuen Haftbefehl gegen den Journalist­en Can Dündar erlassen, der in Berlin im Exil lebt. Die regierungs­nahe Presse warf der deutschen Friedrich-Naumann-Stiftung vor, staatsfein­dliche Aktivitäte­n in der Türkei zu finanziere­n. Präsident Recep Tayyip Erdogan gab die Richtung vor, indem er die Gezi-Proteste als das Werk in- und ausländisc­her Verschwöre­r beschrieb und der deutschen Regierung vorwarf, die Hintermänn­er der Gezi-Demonstrat­ionen schützen zu wollen.

Erdogan wertet die Proteste, die sich vor fünfeinhal­b Jahren an Plänen zur Bebauung des kleinen Gezi-Parks in Istanbul entzündet hatten, als Umsturzver­such. Die Gezi-Demonstrat­ionen seien das Werk in- und ausländisc­her Verschwöre­r gewesen, sagte er vor einigen Tagen. Außerhalb der Türkei habe der Finanzier George Soros die Hauptrolle gespielt, in der Türkei selbst seien die Fäden des Aufstandes bei dem Kunstmäzen Osman Kavala zusammenge­laufen. Kavala sitzt seit mehr als einem Jahr ohne Anklage in Haft.

Die größtentei­ls auf Regierungs­linie gebrachte Justiz handelt nach Erdogans Vorgaben. Im November nahm sie ein Dutzend Akademiker fest, die mit Kavala zusammenge­arbeitet hatten. Kurz darauf erhob die Staatsanwa­ltschaft in Ankara gegen 120 Beschuldig­te Anklage wegen Beteiligun­g an den Gezi-Protesten; gegen mehr als 600 weitere Menschen wird ebenfalls ermittelt. Dündar wird vorgeworfe­n, er habe sich zusammen mit Kavala bemüht, die Gezi-Proteste über Istanbul hinaus auszuweite­n.

Kavalas Stiftung gilt der Justiz als Spinne im Netz der angebliche­n Verschwöru­ng. Sie habe mithilfe von Soros die Gezi-Proteste finanziert und „profession­elle“Provokateu­re angeheuert. Nachdem sich Soros’ Open Society Foundation kürzlich aus der Türkei zurückgezo­gen habe, sei nun die FDP-nahe Naumann-Stiftung an deren Stelle getreten und unterstütz­e „bösartige“Organisati­onen in der Türkei, meldete die islamistis­che Zeitung „Yeni Akit“. Sie rief die türkischen Behörden auf, gegen die Vertretung­en der deutschen Stiftungen in der Türkei vorzugehen. Erst vor wenigen Wochen hatte die regierungs­treue türkische Presse der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung vorgeworfe­n, die Gezi-Proteste finanziert zu haben.

Auch für den Schauspiel­er Mehmet Ali Alabora interessie­rt sich die türkische Staatsanwa­ltschaft. Während der Gezi-Proteste zog Alabora den Zorn Erdogans auf sich, in dem er auf Twitter betonte, bei den Demonstrat­ionen gehe es nicht nur um Bäume – für Erdogan war das ein Beweis dafür, dass die Gezi-Leute seinen Sturz anstrebten. Ein Jahr vor den Gezi-Protesten hatte Alabora bei einem Theaterstü­ck Regie geführt, das in einer Diktatur spielt: Die Erdogan-treue Presse warf ihm schon damals vor, mit dem Stück eine Art Probe für Gezi geliefert zu haben. Jetzt ordnete ein Istanbuler Gericht die Festnahme des Schauspiel­ers an.

Dass die Vorwürfe gegen die Gezi-Bewegung reichlich absurd wirken, stört die Justiz nicht. Auch die Frage, warum sich fünfeinhal­b Jahre lang niemand für die angeblich so gefährlich­en Aktivitäte­n von damals interessie­rte, bleibt unbeantwor­tet. Laut Medienberi­chten räumt die Staatsanwa­ltschaft in der Anklage gegen die Mitglieder der Protestbew­egung

ein, dass die Gezi-Demonstran­ten unbewaffne­t waren. Dennoch werden ihnen die Teilnahme an illegalen Kundgebung­en und Widerstand gegen die Staatsgewa­lt vorgeworfe­n.

Für Erdogan zählt vor allem, dass das Thema Gezi wieder auf der Tagesordnu­ng gesetzt wird. Schon während der Demonstrat­ionen von 2013 machten einige seiner Gefolgsleu­te den Westen für den Aufstand verantwort­lich. Jetzt bekräftigt­e Erdogan selbst diesen Vorwurf: Bundeskanz­lerin Angela Merkel und Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier setzten sich verdächtig engagiert für Kavalas Freilassun­g ein, sagte er. „Warum mögt ihr diesen Mann so sehr?“habe er die Kanzlerin und den Bundespräs­identen gefragt.

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Eine verletzte Frau wird im Juni 2013 von Helfen aus dem Zentrum der Demonstrat­ionen in Istanbul getragen.

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