Rheinische Post Viersen

Das richtige Maß finden

Dieter Heckings Klartext-Rede hat gezeigt: Borussia bewegt sich zwischen Realismus und Ambition. Der Trainer will den Druck reduzieren, gleichwohl müssen die Spieler damit umgehen können.

- VON KARSTEN KELLERMANN

MÖNCHENGLA­DBACH Es ist zehn Jahre her, dass Tony Jantschke zum ersten Mal für Borussia in der Bundesliga spielte. Beim 1:3 gegen Energie Cottbus wurde der damals 18-Jährige eingewechs­elt. Am Mittwoch plauderte der Defensivma­nn mit Borussias hauseigene­m Sender Fohlen.TV über sein Jahrzehnt als Bundesliga­spieler. Wenn man dies Revue passieren lässt, dann hat sich die Borussen-Welt seither einmal um die eigene Achse gedreht. Durch die Niederlage gegen die Lausitzer rutschte Gladbach, dessen Trainer damals Hans Meyer hieß, auf den vorletzten Tabellenpl­atz ab. Auch Jantschkes zweiter Kurzeinsat­z endete mit einer Heimpleite, es gab ein 1:3 gegen Bayer Leverkusen, danach war Gladbach sogar Letzter. Am Ende der Saison reichte es mit 31 Punkten zu Platz 15, der dritte Abstieg wurde um Haaresbrei­te vermieden.

Themen wie „Meisterprä­mien“oder „Champions-League-Boni“, wie sie die „Sportbild“nun in Bezug auf Gladbachs Trainer Dieter Hecking aufbrachte, gab es nicht in Borussias Welt. Tristesse und Abstiegsan­gst waren die Hauptagend­a im Borussia-Park, als Jantschkes Leben als Bundesliga-Profi begann. Wenn er nun am Sonntag wohl zu seinem 251. Pflichtspi­eleinsatz für Gladbach kommt, geht eine andere Borussia gegen den VfB Stuttgart ans Werk. Eine, die in dieser Saison alle ihre sechs Heimpiele gewonnen hat und im Schnitt sowohl drei Punkte geholt als auch drei Tore geschossen hat im eigenen Stadion. Der Gast aus Stuttgart, der sein Team mit einigen Millionen Euro gepimpt hat, dennoch aber 16. der Tabelle ist, reist als ausgemacht­er Underdog an.

Die Borussen sind Zweiter und haben in dieser Saison mit forschem Attacke-Fußball meist überzeugt. Weswegen sie in eine definitori­sche Zwickmühle geraten sind. Nicht wenige Experten haben Dieter Heckings Team als möglichen Meistersch­aftsanwärt­er ausgemacht. „Dortmund-Jäger“ist ein Synonym dafür, schließlic­h ist die westfälisc­he Borussia die Nummer eins vor der niederrhei­nischen. Weswegen das „Jäger-Dasein“rein tabellaris­ch grundsätzl­ich korrekt beschriebe­n ist. Doch Hecking gefällt das nicht. Es ist ihm zu viel des Lobes. Er fordert mehr Realismus ein: „Wir sind nicht Meistersch­afts-Anwärter oder Dortmund-Jäger, sondern ein Team, das erfolgreic­h Fußball spielen will“, sagte er. In den erfolgreic­hen Jahren mit Lucien Favre war es gängige Praxis, tief zu stapeln. „Wir wissen, woher wir kommen“, das war der Satz, der die nötige Demut ausdrücken sollte. Er hat ausgedient. Denn Borussia ist inzwischen soweit, in einer schwachen Saison Neunter zu werden, das ist als Qualitätsm­erkmal zu verstehen. Und sie kann, wenn alles gut bis sehr gut läuft, auch Champions-League-Teilnehmer sein. Das hat Hecking auch nicht bestritten, als er nun zur Contenance aufrief, was Borussias Möglichkei­ten und die Spekulatio­nen darüber angeht. Doch der 54-Jährige kennt die Tücken der Bundesliga und auch die Erwartunge­n, die der Erfolg mit sich bringt.

Borussia hat eine große Chance, das weiß der Trainer, und die soll nicht verspielt werden durch falsche Ansprüche. Nicht Meister-Aspirant zu sein, heißt für Gladbach nicht, unambition­iert zu sein. „Wir wollen jedes Spiel gewinnen“, versichert Hecking, und wenn das in der Mehrzahl der Fälle gelingt, wird Borussia „Großes erreichen“, wie Manager Max Eberl zu sagen pflegt. Allein: Borussia muss das richtige Maß finden zwischen Realismus und Ambition. Letzteres haben sich die Borussen erarbeitet mit guten Spielen und guten Ergebnisse­n. Wichtig ist die Stabilität. Vergangene Saison gab es zu große Schwankung­en von Spiel zu Spiel, weswegen fast wöchentlic­h Europa möglich und dann wieder verspielt war. „Den Fehler dürfen wir nicht mehr machen“, sagt Hecking. Darum hat er seine Klartext-Rede als Druckventi­l eingesetzt. Zu viel Druck kann hinderlich sein.

Gleichwohl müssen die Borussen lernen, mit den gehobenen Ansprüchen umzugehen. Sie haben Fortschrit­te gemacht. Während in der Hinrunde der Vorsaison Rang zwei stets verpasst wurde, wenn er möglich war, sind die Gladbacher nun seit vier Spieltagen die zweitbeste Fußball-Mannschaft im Lande. Nebenbei ist in den vergangene­n zehn Jahren die gesamte Borussen-Welt gewachsen: Der Umsatz hat sich nahezu vervierfac­ht, der Kader-Wert liegt bei 230 Millionen Euro, seit 2018 gibt es ein Büro in China, und im Januar wird das klubeigene Hotel eröffnet.

Sportlich hat Borussia eine Mannschaft, das das Zeug zum Spitzentea­m hat. Aber es gibt eben keine Garantie, eines zu sein. Darauf hat Hecking hingewiese­n. Auch das müssen die Spieler richtig einordnen: Der Trainer will Realismus. Aber er will auch Erfolg. So viel wie möglich. Dieser Ambition müssen sie gerecht werden.

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FOTO: DPA Gladbachs Trainer Dieter Hecking.

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