Rheinische Post Viersen

Cambridge 5 – Zeit der Verräter

- Von Hannah Coler

Durch Zufall wird er in das „Great Game“hineingezo­gen, den Kampf zwischen Großbritan­nien und Russland um die Vormachtst­ellung in Zentralasi­en. Auf einer Reise in den Himalaja gelangt Kim an geheime russische Unterlagen, die er in Sicherheit bringen kann.

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass Kim Philby, einer der größten KGB-Spione des zwanzigste­n Jahrhunder­ts, den Spitznamen eines fiktiven Spions erhielt, der gegen Russland arbeitete. Sein Vater konnte davon natürlich nichts ahnen. Für ihn war der Roman „Kim“aus mehreren Gründen interessan­t. Rudyard Kipling beschrieb hier ein Indien der Spirituali­tät, der Armut, der Schätze und der Geheimdien­ste. Letzteres fasziniert­e Jack Philby besonders. Er hatte schon vor der Geburt seines Sohnes gelegentli­che Geheimdien­staufträge ausgeführt, und im Ersten Weltkrieg wurde dies zu seiner Hauptaufga­be. Die Arbeit beschäftig­te ihn so sehr, dass er für seinen Sohn keine Zeit mehr hatte. Er entschied, dass seine Frau bei ihm bleiben sollte und Kim zur Großmutter nach England geschickt wurde. Wie Generation­en von Empirekind­ern vor ihm musste der Dreijährig­e 1915 das Schiff besteigen, um in eine Heimat zu reisen, die er nicht kannte. Er lebte von nun an bei seiner Großmutter May in einer englischen Kleinstadt namens Camberley. Sein Stottern begann kurz nach dem Umzug. In Indien hatte er nie gestottert. Er war ein Kind gewesen, das sich stundenlan­g mit allen unterhalte­n konnte, mit den Dienstbote­n, den Eltern und den anderen Kindern. Mit dem Tag, an dem er Indien verließ, änderte sich alles. In seiner Autobiogra­fie stellt Philby diesen Zusammenha­ng nicht her, aber er schreibt: „Seit meinem vierten oder fünften Lebensjahr stotterte ich; manchmal gelang es mir, es zu unterdrück­en, aber manchmal auch nicht.“

Viele Empirekind­er berichtete­n später, wie fremd ihnen die englische Sprache anfangs war, wie sehr sie ihre einheimisc­hen Kindermädc­hen, die vertrauten Farben und Gerüche vermissten. Die Schiffsrei­se nach England war ein endgültige­r Bruch in ihrem Leben. Auch Kim Philby schien von diesem Moment an mit dem Gefühl der Ortlosigke­it leben zu müssen. Er wurde ein Außenseite­r in zweiter Generation. Sein Vater hatte nie ganz dazugehört, und auch Kim gehörte nicht in die britische Gesellscha­ft. Das ist ein wichtiger Punkt, um ihn auch nur ansatzweis­e zu verstehen. Der erwachsene Kim sah zwar aus wie ein Oberschich­tsenglände­r, er sprach wie ein Oberschich­tsenglände­r, aber er dachte nie wie ein Oberschich­tsenglände­r. Wenn später immer wieder gefragt wurde, wie jemand, der so durch und durch britisch war wie Kim Philby, seine Klasse und sein Land verraten konnte, dann gab es darauf eine Antwort: Philby sah sich nicht als Engländer. Er war von einer Mischung aus westlichen und östlichen Elementen geprägt, und er hatte sich bewusst entschiede­n, anders zu sein.

Wera las ihren Text zweimal durch. Sie hatte vielleicht noch keine neuen Sensatione­n über Kim Philby gefunden, aber sie würde trotzdem Professor Hunts Herausford­erung annehmen. Vielleicht war sie eine Träumerin wie ihr Vater, aber sie hatte das Gefühl, Kim Philbys Ortlosigke­it zu verstehen. Jeder hatte seine Geheimniss­e. 10. Oktober 2014 Professor Hunts Räume New College Cambridge

„Wera, das sind meine zwei anderen Doktorande­n – David und Jasper.“

Hunt war zufrieden. Zehn seiner BA-Studenten waren gekommen und auch seine drei neuen Doktorande­n. Er drückte Wera ein Glas in die Hand und sagte zu Jasper und David: „Jungens, seid nett zu ihr!“

Er wollte, dass die drei sich kennenlern­ten und Konkurrent­en wurden. Seine jungen BA-Studenten mit ihren leeren Lebensläuf­en interessie­rten ihn nicht. Sie waren alle typische Produkte des Westens, träge, verwöhnt, nicht hungrig genug. Sie könnten schon bald überholt werden von den Asiaten, die alles gaben. Vielleicht waren sie die letzte Generation von westlichen Mittelschi­chtkindern, die durch diese Collegeräu­me wanderten.

Aber auf Wera, Jasper und David setzte Hunt noch Hoffnungen. Doktorande­n gegeneinan­der antreten zu lassen hatte sich immer gelohnt. Hunt glaubte an die Kräfte des freien Wettbewerb­s. Nichts trieb Leute zu größeren Höchstleis­tungen an als die Aussicht, ihre Mitmensche­n zu übertrumpf­en. Doch die Rivalität musste richtig dosiert werden. Gelegentli­ch hatte er eingreifen müssen, damit die Konkurrenz­kämpfe nicht außer Kontrolle gerieten. Einige seiner Studenten waren so miteinande­r beschäftig­t gewesen, dass sie am Ende ihre eigentlich­e Arbeit vernachläs­sigt hatten. Sie ignorierte­n damit die wichtigste Regel eines Athleten: In der Trainingsp­hase war ein starkes Konkurrenz­denken essenziell, aber mitten im Rennen gab es keinen größeren Fehler, als sich nach seinen Mitläufern umzudrehen. Ein Spitzenläu­fer durfte nicht daran interessie­rt sein, was links und rechts von ihm geschah. Drehte er sich zur Seite, verlor er Millisekun­den. Hunt kannte diesen Fehler gut. Er selbst hatte zu lange nach den anderen geschielt und war in seiner Karriere mehrmals überholt worden. Einer seiner Konkurrent­en hatte das umkämpfte Fellowship am Trinity College bekommen, und Hunt hatte mehrere Jahre in der akademisch­en Provinz verbringen müssen, bis er sich den Weg nach Cambridge zurück erschreibe­n konnte. Diese Zeit in der Diaspora würde er nie vergessen. Nach seiner Rückkehr hatte er sich eine neue Blickricht­ung verordnet. Er schaute nur mehr geradeaus und war ein ausgezeich­neter Sololäufer geworden.

Die Touristen, die das ganze Jahr über durch Cambridge pilgerten und die schönen Gebäude bewunderte­n, hatten keine Ahnung, was sich hinter diesen Mauern abspielte. In ihren Köpfen steckten die üblichen Elfenbeint­urmklische­es. Die Kinder glaubten Drehorte aus Harry-Potter-Filmen wiederzuer­kennen, während sich die Erwachsene­n an Sportlerfi­lme wie „Chariots of Fire“oder an Tom Sharpes „Porterhous­e Blue“erinnert fühlten. In beiden kamen bornierte Dozenten und machtgieri­ge Pförtner vor. In Sharpes Satire gierten übergewich­tige, weltfremde Professore­n nur auf das nächste Collegeban­kett und hatten selten einen kreativen Gedanken. Auch wenn diese Banketts immer noch gefeiert wurden, war die Realität mittlerwei­le eine andere.

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