Rheinische Post Viersen

Viersen fürchtet Hartz-IV-Wohndesast­er

Der Kreis will bei den Kosten der Unterkunft für Hartz-IV-Bezieher sparen. Die Stadt Viersen sieht sich benachteil­igt und warnt vor sozialem Sprengstof­f in der Wohnungsfr­age.

- VON MARTIN RÖSE

VIERSEN Die Stadt Viersen rechnet damit, dass Hunderte Hartz-IV-Bezieher ihre Wohnungen verlassen müssen, weil ihre Unterkünft­e nicht mehr den neuen Kostengren­zen entspreche­n. Besonders betroffen dürften Bedarfsgem­einschafte­n mit mehr als vier Mitglieder­n sein – und ältere Alleinsteh­ende. Prekär werde die Situation insbesonde­re deshalb, weil die neuen Obergrenze­n für alle Bedarfsgem­einschafte­n niedriger liegen als die Mieten für den öffentlich geförderte­n Wohnungsba­u in NRW, so die Viersener Stadtverwa­ltung. Damit werde sozialer Wohnungsba­u in Viersen unattrakti­v. „Dies dürfte eine äußerst seltene, wenn nicht gar einmalige Situation in NRW sein, die eine Umsetzung des politische­n Zwecks des öffentlich geförderte­n Wohnungsba­us als Wohnungsfü­rsorge für finanzschw­ache Haushalte, angemessen­e soziale Teilhabe und Integratio­n besonders bedürftige­r Nutzer unmöglich macht“, schreibt Bürgermeis­terin Sabine Anemüller (SPD) in einer Vorlage für den nächsten Hauptaussc­huss.

Die neue Berechnung der Obergrenze­n hat der Kreis Viersen vor zwei Jahren veranlasst. Während die Nettomiete gemeindesc­harf ermittelt wurde, wählte der Kreis für die kalten Nebenkoste­n (beispielsw­eise für Aufzüge oder Gemeinscha­ftsräume wie in vielen Sozialwohn­ungsbauten der Viersener Aktien Baugesells­chaft AG) einen Durchschni­ttswert für alle Kreiskommu­nen. Da die kleineren Kreiskommu­nen kaum Gebäude mit Aufzügen oder Gemeinscha­ftsräumen haben, kritisiert­e die Stadt Viersen scharf, dass die Neuregelun­g sie benachteil­ige.

Der Kreis besserte bei der Berechnung nach – auch die kalten Nebenkoste­n werden nun gemeindesc­harf ermittelt – und setzte Kündigungs­schreiben bis November 2018 aus. Zudem soll das Jobcenter im Zweifel Einzelfall­entscheidu­ngen treffen. Der Kreis verwies in der Vergangenh­eit stets darauf, dass es Sache des Landes sei, die Rahmenbedi­ngungen für sozialen Wohnungsba­u festzulege­n.

Bürgermeis­terin Anemüller hingegen würde das Problem lieber von der anderen Seite her lösen: „Der Gesetzgebe­r hat die Beurteilun­g, was als das unbedingt Erforderli­che anzusehen ist, dem örtlichen Träger der Sozialhilf­e überlassen“, sagt sie. „Es ist also in der Entscheidu­ngsgewalt des Kreises, was er als das unbedingt Erforderli­che definiert.“Und das solle nach Auffassung der Bürgermeis­terin deutlich mehr sein als bisher. „Verbleibt es bei der Kostenrege­lung,

“Dies dürfte eine seltene, wenn nicht gar einmalige Situation in NRW sein“Sabine Anemüller Bürgermeis­terin Viersen

sind in der Stadt Viersen in großem Umfang Umzüge aus bisher bewohntem Wohnraum zu erwarten“, sagt sie. „Dies birgt erhebliche soziale Sprengkraf­t.“Entspreche­nde Wohnungen gebe es nur in Altbauten – die seien aber, so die Bürgermeis­terin, „für besonders bedürftige Nutzergrup­pen wie Senioren oder Menschen mit körperlich­en Einschränk­ungen kaum geeignet“.

Auch wenn die neuen Obergrenze­n auf den ersten Blick zu Einsparung­en führen werden, glaubt Anemüller an hohe Folgekoste­n: Umzüge und Renovierun­gen müssten bezahlt werden, der Betreuungs­aufwand in den Altbauten sei höher, der Ansatz „ambulant vor stationär“ sei dann kaum noch zu realisiere­n. „Stattdesse­n steigt die Wahrschein­lichkeit für die Flucht in stationäre Unterbring­ung mit allen erhebliche­n Kostenfolg­en für die öffentlich­e Hand“, so Viersens Bürgermeis­terin. Schon jetzt habe sich der Zeitaufwan­d für die Beratung der Leistungsb­erechtigte­n und die Prüfung der Sachverhal­te in den Sozialämte­rn und beim Jobcenter deutlich erhöht. Hinzu kämen soziale Folgen für die Betroffene­n: „Mit dem Verlust des bisherigen Wohnumfeld­es gehen besonders für ältere Menschen der Verlust sozialer Bindungen und eine entspreche­nde Destabilii­erung einher.“

Drei Forderunge­n erhebt die Bürgermeis­terin an den Kreis Viersen. Erstens die Maximalfor­derung: Die Obergrenze­n in Viersen sollten an das Mietniveau des öffentlich geförderte­n Wohnungsba­us angepasst werden.

Und da sie ahnt, dass das schwierig werden könnte, schiebt sie zwei weitere Forderunge­n hinterher: Zumindest für Ältere oder aus gesundheit­lichen Gründen Bedürftige sollten die Mietgrenze­n des öffentlich geförderte­n Wohnungsba­us grundsätzl­ich gelten und nicht von einer Einzelfall­entscheidu­ng abhängig sein. Und: Anemüller fordert angemessen­e Zuschläge für barrierefr­eie Wohnungen, damit sich der Bau auch lohnt.

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RP-ARCHIVFOTO: BUSCH Die Stadt Viersen rechnet damit, dass Hunderte von Hartz IV-Beziehern ihre Wohnungen verlassen müssen. Der Grund: Ihre Unterkünft­e entspreche­n nicht mehr den aktuellen Kostengren­zen.
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