Viersen fürchtet Hartz-IV-Wohndesaster
Der Kreis will bei den Kosten der Unterkunft für Hartz-IV-Bezieher sparen. Die Stadt Viersen sieht sich benachteiligt und warnt vor sozialem Sprengstoff in der Wohnungsfrage.
VIERSEN Die Stadt Viersen rechnet damit, dass Hunderte Hartz-IV-Bezieher ihre Wohnungen verlassen müssen, weil ihre Unterkünfte nicht mehr den neuen Kostengrenzen entsprechen. Besonders betroffen dürften Bedarfsgemeinschaften mit mehr als vier Mitgliedern sein – und ältere Alleinstehende. Prekär werde die Situation insbesondere deshalb, weil die neuen Obergrenzen für alle Bedarfsgemeinschaften niedriger liegen als die Mieten für den öffentlich geförderten Wohnungsbau in NRW, so die Viersener Stadtverwaltung. Damit werde sozialer Wohnungsbau in Viersen unattraktiv. „Dies dürfte eine äußerst seltene, wenn nicht gar einmalige Situation in NRW sein, die eine Umsetzung des politischen Zwecks des öffentlich geförderten Wohnungsbaus als Wohnungsfürsorge für finanzschwache Haushalte, angemessene soziale Teilhabe und Integration besonders bedürftiger Nutzer unmöglich macht“, schreibt Bürgermeisterin Sabine Anemüller (SPD) in einer Vorlage für den nächsten Hauptausschuss.
Die neue Berechnung der Obergrenzen hat der Kreis Viersen vor zwei Jahren veranlasst. Während die Nettomiete gemeindescharf ermittelt wurde, wählte der Kreis für die kalten Nebenkosten (beispielsweise für Aufzüge oder Gemeinschaftsräume wie in vielen Sozialwohnungsbauten der Viersener Aktien Baugesellschaft AG) einen Durchschnittswert für alle Kreiskommunen. Da die kleineren Kreiskommunen kaum Gebäude mit Aufzügen oder Gemeinschaftsräumen haben, kritisierte die Stadt Viersen scharf, dass die Neuregelung sie benachteilige.
Der Kreis besserte bei der Berechnung nach – auch die kalten Nebenkosten werden nun gemeindescharf ermittelt – und setzte Kündigungsschreiben bis November 2018 aus. Zudem soll das Jobcenter im Zweifel Einzelfallentscheidungen treffen. Der Kreis verwies in der Vergangenheit stets darauf, dass es Sache des Landes sei, die Rahmenbedingungen für sozialen Wohnungsbau festzulegen.
Bürgermeisterin Anemüller hingegen würde das Problem lieber von der anderen Seite her lösen: „Der Gesetzgeber hat die Beurteilung, was als das unbedingt Erforderliche anzusehen ist, dem örtlichen Träger der Sozialhilfe überlassen“, sagt sie. „Es ist also in der Entscheidungsgewalt des Kreises, was er als das unbedingt Erforderliche definiert.“Und das solle nach Auffassung der Bürgermeisterin deutlich mehr sein als bisher. „Verbleibt es bei der Kostenregelung,
“Dies dürfte eine seltene, wenn nicht gar einmalige Situation in NRW sein“Sabine Anemüller Bürgermeisterin Viersen
sind in der Stadt Viersen in großem Umfang Umzüge aus bisher bewohntem Wohnraum zu erwarten“, sagt sie. „Dies birgt erhebliche soziale Sprengkraft.“Entsprechende Wohnungen gebe es nur in Altbauten – die seien aber, so die Bürgermeisterin, „für besonders bedürftige Nutzergruppen wie Senioren oder Menschen mit körperlichen Einschränkungen kaum geeignet“.
Auch wenn die neuen Obergrenzen auf den ersten Blick zu Einsparungen führen werden, glaubt Anemüller an hohe Folgekosten: Umzüge und Renovierungen müssten bezahlt werden, der Betreuungsaufwand in den Altbauten sei höher, der Ansatz „ambulant vor stationär“ sei dann kaum noch zu realisieren. „Stattdessen steigt die Wahrscheinlichkeit für die Flucht in stationäre Unterbringung mit allen erheblichen Kostenfolgen für die öffentliche Hand“, so Viersens Bürgermeisterin. Schon jetzt habe sich der Zeitaufwand für die Beratung der Leistungsberechtigten und die Prüfung der Sachverhalte in den Sozialämtern und beim Jobcenter deutlich erhöht. Hinzu kämen soziale Folgen für die Betroffenen: „Mit dem Verlust des bisherigen Wohnumfeldes gehen besonders für ältere Menschen der Verlust sozialer Bindungen und eine entsprechende Destabiliierung einher.“
Drei Forderungen erhebt die Bürgermeisterin an den Kreis Viersen. Erstens die Maximalforderung: Die Obergrenzen in Viersen sollten an das Mietniveau des öffentlich geförderten Wohnungsbaus angepasst werden.
Und da sie ahnt, dass das schwierig werden könnte, schiebt sie zwei weitere Forderungen hinterher: Zumindest für Ältere oder aus gesundheitlichen Gründen Bedürftige sollten die Mietgrenzen des öffentlich geförderten Wohnungsbaus grundsätzlich gelten und nicht von einer Einzelfallentscheidung abhängig sein. Und: Anemüller fordert angemessene Zuschläge für barrierefreie Wohnungen, damit sich der Bau auch lohnt.