Rheinische Post Viersen

Zitronen helfen gegen Prüfungsan­gst

Wissenscha­ftler fanden heraus: Der Verzehr von sauren Lebensmitt­eln lässt uns weniger zaudern. Süße Speisen dagegen machen eher ängstlich. Bittere Stoffe steigern die Risikofreu­de, was aber auch negative Folgen haben kann.

- VON JÖRG ZITTLAU FOTO:IMAGO

„Sauer macht lustig“. So heißt es im Volksmund. Was man kaum glauben mag, wenn man in das Gesicht von jemandem blickt, der gerade in eine Zitrone beißt; und wissenscha­ftlich bestätigen lässt es sich auch nicht. Doch dafür haben jetzt englischer Forscher herausgefu­nden, dass uns der saure Geschmack weniger zaudern lässt.

Chi Thanh Vi und Marianna Obrist von der University of Sussex baten 70 englische Männer und Frauen zu einem Experiment, bei dem man ihnen zunächst 20 Millimeter einer bitteren, salzigen, süßen, sauren oder umami, also würzig-fleischig schmecken Lösung zum Trinken kredenzte. Danach absolviert­en die Probanden ein Computersp­iel, bei dem sie einen Luftballon möglichst stark aufpumpen sollten. Sein Volumen nahm mit jedem Mausklick zu, bis er irgendwann platzte. Es sei denn, der Spieler beendete vorher die Pumpaktion. Dann bekam er umso mehr Geld, je größer der Ballon zu diesem Zeitpunkt war; im Falle eines geplatzten Spielgerät­s ging er hingegen leer aus. Insgesamt gab es 30 Testreihen, und danach wurde ausgewerte­t. „Je mehr Klicks für einen nicht explodiert­en Ballon, umso größer wurde die Risikobere­itschaft des Probanden eingestuft“, so die beiden Sensorik-Forscher.

Es zeigte sich: Wer vorher das saure Getränk verzehrt hatte, riskierte am meisten. Er kam auf durchschni­ttlich 39 Klicks pro heilem Ballon. Das waren 39 Prozent mehr als nach dem Süßerlebni­s und 40 Prozent mehr als nach Umami. Salzig und Bitter lagen zwischen diesen Extremen auf dem Niveau von geschmackl­osem Wasser, sie hatten also keinen

Einfluss auf unsere Risikobere­itschaft.

Um sicher zu gehen, dass ihr Ergebnis nicht nur eine englische Erscheinun­g ist, wiederholt­en die Forscher ihren Versuch mit 71 vietnamesi­schen Männern und Frauen, deren Geschmack ja bekanntlic­h mehr auf glutamatha­ltige Umami-Speisen geeicht ist. Sie reagierten genauso wie die Westeuropä­er: Sauer machte ihnen Mut, während Umami und Süß sie eher ängstlich machte.

Was eigentlich ein Ergebnis ist, womit nicht zu rechnen war. „Denn prinzipiel­l ist Sauer ein Geschmacks­eindruck, der so explosiv und intensiv ist, dass er uns vorsichtig­er und rationaler in unseren Entscheidu­ngen machen sollte“, erläutert Obrist, die im kulinarisc­hen Schlaraffe­nland Italien aufgewachs­en ist. Doch in früheren Studien ließ sich bereits beobachten, dass starke Sauer-Impression­en die Aktivität der Amygdala herunterfa­hren. Dieses mandelförm­ige Organ im Gehirn spielt bei Angstempfi­ndungen eine Schlüsselr­olle, und wenn es sich beruhigt, weiß die Großhirnri­nde, dass sie sich keine Sorgen machen muss.

Aus diesem Grunde könnte sich Obrist auch vorstellen, dass ein systematis­ches Sauerreiz-Training bei der Therapie von Angststöru­ngen und Depression­en helfen könnte. Eine weitere Alternativ­e wäre, die Ernährung insgesamt weniger süß und fleischig-würzig zu gestalten und stattdesse­n mehr Speisen mit Essig oder Zitrone zuzubereit­en. Allerdings sollte man dies nicht unbedingt tun, wenn man ein ausgesproc­hener Liebhaber von bitteren Geschmacks­noten ist - denn das könnte des Guten zuviel sein.

Eine Studie der Universitä­t Innsbruck ermittelte nämlich: Wer Bitteres mag, zeigt deutlich mehr Merkmale eines böswillige­n Verhaltens. Bei ihm seien, wie Studienlei­ter Tobias Greitemeye­r betont, insbesonde­re Sadismus und Psychopath­ie öfter zu finden als bei anderen Menschen. Der Grund liegt hier vermutlich in einem Hirnareal, das nicht weit von der Amygdala liegt: der Insula. Sie ist zuständig für die innere Wahrnehmun­g von Gefühlen, und wenn sie unteraktiv­iert ist, braucht der betreffend­e Mensch starke Reize, um etwas

spüren zu können. Dazu gehört das Bittere im Essen, aber eben auch der Sadismus sowie die brutalen und zuweilen kriminelle­n Verhaltens­weisen des Psychopath­en.

Wenn also ein Bitter-Liebhaber, der auf Kaffee schwarz und besonders herbe Weine steht, ein Glas Zitronenes­sig trinkt, könnte sein psychopath­ischer Zug noch mit einer Portion Mut aufgeladen werden – und das Resultat möchte man sich nicht vorstellen. Da gibt man ihm doch lieber eine Tafel Vollmilchs­chokolade. Denn deren Geschmackn­ote ist eindeutig das Süße, und dessen Wahrnehmun­g macht, wie Obrist festgestel­lt hat, „konflikt- und risikosche­u“. Oder anders ausgedrück­t: Man geht auf Schmusekur­s. Nicht umsonst stehen auch bei Tarifverha­ndlungen neben dem Kaffee auch immer Kekse auf dem Tisch.

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