Cambridge 5 – Zeit der Verräter
Es schien jeden Tag schlimmer zu werden, was herauskam, und alle waren darin verwickelt: Politiker und sogar Leute von der BBC. Bis in die 1970er-Jahre konnten diese Missbrauchsfälle mittlerweile zurückverfolgt werden. Jahrelang schienen die britische Polizei und die Justiz weggeschaut zu haben, jetzt waren alle Zeitungen voll davon.
Wera war so in die Berichte vertieft, dass sie zuerst das Klopfen nicht hörte. Als sie die Tür aufmachte, hatte sie einen Moment lang das Gefühl, dass vor ihr auch ein Opfer stand – Davids und ihr Opfer. Polina schien ihre Nervosität zu bemerken.
„Ich war in der Gegend. Montags haben wir immer unser Au-pairTreffen im Pizza Express nebenan.“
„Die haben eine gute Champignonpizza.“
Polina machte eine wegwerfende Handbewegung.
„Es ist lächerlich, zehn Pfund für eine Pizza zu zahlen. Wir gehen da nur hin, weil die Mädchen es eleganter finden als Pizza Hut.“
Polina ging an Wera vorbei zum Fenster. Es war ein trüber Abend, und alles, was man sehen konnte, waren eine Straßenlaterne und die gegenüberliegende Mauer. Wera versuchte ihre Nervosität zu überspielen, indem sie den Touristenführer gab.
„Das da drüben ist Sidney Sussex College, du kennst ja sicher die Geschichte, die besitzen angeblich Oliver Cromwells Kopf, und nur der Master weiß, wo genau das Teil beerdigt ist. Und mein Zimmer hier hat eine verrückte Geschichte. Es war Kim Philbys Studentenzimmer.“
„Das hast du mir schon mal erzählt.“
„Die Inspiration kommt trotzdem nicht.“
Polina schaute sie an: „Vielleicht liegt das an den Ablenkungen, denen du seit Neuestem nachgehst?“
„Die Mitrochin-Papiere?“, fragte Wera. Sie versuchte normal zu klingen, aber sie wusste, sie hatte keine Chance. Polina hatte allen Grund, wütend zu sein.
„Nein. Ich meine David.“
„Es . . . es geht ihm nicht gut.“Weras Stimme drohte wieder zu kippen.
„Und du tröstest ihn aufopfernd.“„Er kann nicht darüber reden, was passiert ist . . . Wir rudern zusammen.“
„Romantisch“, sagte Polina.
„Es ist furchtbar kalt auf dem Fluss.“
Polina warf ihr einen abschätzigen Blick zu.
„Du hast keine Ahnung, was Kälte ist, Wera. Warst du schon mal in Russland? Da kannst du etwas über Kälte lernen, und ich meine nicht die Außentemperaturen. Wir haben dort heute einen hohen Feiertag, 23. Februar, Tag des Verteidigers des Vaterlandes. Sie werden alle in den Restaurants sitzen und Putin feiern.“
„Wirst du zurückgehen?“, fragte Wera.
„Solange Putin lebt, sollte ich das besser nicht tun.“
Wera wusste einen Moment lang nicht, was sie dazu sagen sollte. Polinas Leben war wohl noch schlimmer, als sie geahnt hatte.
„Du hattest Schwierigkeiten?“„Teilnahme an Demonstrationen. Nichts Spektakuläres. Aber es wurde zunehmend kälter in meiner Umgebung. Das ist echte Kälte, Wera, aber die wirst du nicht kennen.“
„Weiß David davon?“
„Ich spiele nicht die Mitleidskarte.“ „Es tut mir sehr leid, Polina, du hast mir so geholfen mit dem Mitrochin-Archiv, mit den Übersetzungen . . .“
„Und das ist deine Art, Dankbarkeit zu zeigen.“
„Polina, ich.“
„Aber im Krieg und in der Liebe ist ja alles erlaubt. Napoleon, korrekt? Ich habe auch Geschichte in der Schule gehabt.“
Wera versuchte sich zu fangen. „Napoleon war ein Massenmörder, ich glaube nicht, dass.“
„Aber mit Mördern kennst du dich doch aus, Wera, nicht wahr?“„Was?“
„Wir wissen alle, was Kim Philby getan hat. Die Frage ist, was macht er mit dir?“
„Ich verstehe nicht, was du .“„Du bist doch sonst nicht so langsam. Die Frage ist: Was hat deine krankhafte Beschäftigung mit Philby aus dir gemacht?“
Sie stand jetzt vor Weras Computer und schaute auf den Bildschirm. Die Überschrift der Daily Mail lautete: „Pädophile unter uns“.
„Findest du es nicht etwas makaber, dass du dich mit Leuten wie Philby beschäftigst, mit diesen dreckigen Spionagedingen, und dann auch noch die Leiche von Stef findest? Wer bist du, Wera? Eine Voyeurin, die sich an diesem Dreck aufgeilt? Oder vielleicht etwas sehr viel Schlimmeres? Eine von ihnen?“
Polina ging zur Tür, ohne eine Antwort abzuwarten.
„Du solltest dieses Zimmer dringend lüften. Es stinkt.“
14. März 2015
The Orchard Tea Room Grantchester
Wera und David hatten Jasper seit Wochen nicht mehr gesehen. Er schien die Universitätsbibliothek zu meiden und war auch in keiner Vorlesung aufgetaucht. Sie vermuteten, dass er in den Tiefen eines ausländischen Archivs verschwunden war, wie immer auf der Suche nach der sensationellen, alles erklärenden Quelle. Wera vermisste Jaspers Hyperaktivität nicht – aber sie vermisste ein wenig seine unbeirrbare Zuversicht, dass es für alles im Leben eine Erklärung gab. Ihr waren Erklärungen in letzter Zeit abhandengekommen. Mit David konnte sie nicht darüber reden. Jedes Mal, wenn sie versuchte, über Stefs Tod zu sprechen, wechselte er das Thema.
Und dann hatte vor ein paar Tagen in Weras Postfach eine Karte gelegen, mit Jaspers schwungvoller Handschrift und einem einzigen Befehlssatz:
Orchard Tea Room, Samstag 15 Uhr, BEIDE!
Es war typisch für Jasper, dass er die Karte nicht einmal unterschrieben hatte. Er musste der festen Überzeugung sein, dass seine Handschrift unverwechselbar war und jeder automatisch einer Anordnung von ihm Folge leisten würde.
Wera zeigte David die Karte. Auf der Vorderseite war ein Luftbild von Grantchester abgebildet, einem kleinen Dorf außerhalb von Cambridge. Es sah aus wie die Location für einen Rosamunde-Pilcher-Film: eine normannische Kirche, umgeben von strohbedeckten Häusern und satten Wiesen.