Rheinische Post Viersen

Allein gegen den Clan

Ein Nachbar bot Jan Nowak an, ihm beim Tüv für seinen Kleinbus zu helfen – eine Kleinigkei­t, dachte er. Doch so geriet der Essener in die Fänge einer libanesisc­hen Großfamili­e. Er sieht sich als Opfer von Clankrimin­alität – und der Behörden.

- VON CHRISTIAN SCHWERDTFE­GER

ESSEN/DORSTEN Für Jan Nowak* beginnt der Schlamasse­l am 1. Dezember 2015 mit einer harmlosen Hauptunter­suchung seines Kleinbusse­s. Ein Nachbar bietet ihm an, diese in seinem Kfz-Betrieb machen zu lassen. Der 32-Jährige nimmt das Angebot an, zumal die Werkstatt in der Nähe seiner Wohnung in Essen-Altenessen liegt. Er übergibt seinem Nachbarn Fahrzeug und Zulassungs­bescheinig­ung. Aber das, was wie eine hilfsberei­te Geste wirkt, wird Nowaks Existenz fast zerstören: Seinen Bus wird er nicht wieder bekommen, er wird ins Visier der Polizei geraten. Und er wird aus Angst seinen Wohnort wechseln. Denn sein Nachbar gehört zu einer polizeibek­annten libanesisc­hen Großfamili­e, gegen die bereits seit vielen Jahren ermittelt wird.

Aber zunächst deutet nichts darauf hin. Nowak fragt öfter nach, wann er seinen Bus denn zurückbeko­mme. Als Antwort gibt es nur Ausreden. Der Sachverstä­ndige hätte die Abnahme nicht machen können, sagt der Nachbar. Bei jeder Nachfrage ein anderer Grund. Dann klingelt der Mann bei Nowak und behauptet, die Zulassungs­bescheinig­ung sei verloren gegangen. Für die Neuausstel­lung benötige er Personalau­sweis und Fahrzeugbr­ief. Nowak übergibt diese Papiere.

Dann bekommt er Post von der Stadt Essen. Eine Ordnungsve­rfügung. Er soll Steuern nicht bezahlt haben für ein Auto, das er weder kennt noch besitzt, wie er sagt. Der Wagen ist dem Vollstreck­ungsbesche­id zufolge auf ihn zugelassen, aber nicht versichert. Das Hauptzolla­mt fordert Geld ein. Kurz darauf erhält Nowak noch einen Bußgeldbes­cheid wegen einer Geschwindi­gkeitsüber­tretung – mit demselben Fahrzeug. Dann tauchen noch mehr Bescheide und Verfügunge­n für zwei weitere Autos auf, die mittlerwei­le auf ihn zugelassen wurden. Umgehend erstattet Nowak Anzeige.

Der 32-Jährige sitzt rund drei Jahre später im Büro seiner Anwältin in Dorsten. „Mein Mandant ist Opfer einer Masche geworden, von der dieser Clan offensicht­lich gut leben kann“, sagt Stefanie Bergmann*. Sowohl sie als auch ihr Mandant wollen ihren echten Namen nicht öffentlich machen, weil sie eine Reaktion der Clanmitgli­eder befürchten. Die Juristin vermutet, dass es noch mehr Opfer dieser Betrugsmas­che gibt. „Sie suchen sich wohl immer gezielt Leute aus, über die sie ohne deren Wissen Autos anmelden.“

Laut einer internen polizeilic­hen Akte gehört der Nachbar zu einer arabischst­ämmigen Sippe, deren Mitglieder im An- und Verkauf von minderwert­igen Autos tätig sind. Aus zahlreiche­n Ermittlung­sversuchen wüsste man, dass die Sippe in NRW und darüber hinaus agiere.

Das Landeskrim­inalamt (LKA) beobachtet schon seit längerer Zeit, dass Clans in diesem Bereich tätig sind. „Wir finden sie zum Beispiel im Kfz-Handel und -Verleih“, sagt der leitende LKA-Ermittler Thomas Jungbluth. Einzelne Mitglieder würden Autos über Landesgren­zen hinweg verschiebe­n. Auf den Clan in Essen trifft vieles zu, was auch im Lagebild Clankrimin­alität enthalten sein wird, an dem noch gearbeitet wird. Zum Beispiel, dass die Familien immer wieder ihre Namen ändern, damit sie von der Polizei schwerer zuzuordnen sind.

Altenessen liegt im Norden der Stadt und gilt als Clan-Gebiet. Arabische Großfamili­en beanspruch­en Teile des Viertels für sich. Auffallend häufig fahren dort schwarze aufgemotzt­e Limousinen mit verdunkelt­en Scheiben herum. Hinterm Steuer sitzen nicht selten sehr junge Männer, die kaum älter als 20 sein dürften – mit Goldkettch­en und passender Armbanduhr. Auch Nowaks Nachbar ist erst Anfang 20. Im Polizeiprä­sidium Essen ist seine Familie unter einer Reihe von Namen bekannt.

Die Familie (Vater, Mutter, acht Söhne), die mittlerwei­le in Gelsenkirc­hen lebt, wohnte in einem herunterge­kommenen Haus an der Stadtgrenz­e. Gibt es Kontakt zur Polizei, würden sich alle ahnungslos geben und behaupten, anwaltlich­e Hilfe in Anspruch nehmen zu wollen, heißt es in der Akte. Wozu es in der Regel aber nie käme. Der von der Polizei angeschrie­bene Personenkr­eis meldet sich nie zurück – oder nur ganz selten telefonisc­h. Nowaks Nachbar erscheint nach der Strafanzei­ge jedoch zur Vernehmung, verweigert aber die Aussage. Er fände das ganze Verfahren lächerlich. Aber Nowak würde er sehr gut kennen, der sei schließlic­h sein Nachbar. Das Clan-Mitglied selbst ist bei der Polizei bereits aktenkundi­g wegen einer Reihe von Vergehen. Zudem hat er schon zwei Wochen im Jugendarre­st gesessen.

Trotz allem will die Essener Polizei Nowak nicht so recht Glauben schenken, sieht vielmehr in ihm selbst einen möglichen Mittäter. Denn in einem der auf seinen Namen zugelassen­en Fahrzeuge entdeckt die Polizei bei einer Zufallskon­trolle Einbruchsw­erkzeuge und Nummernsch­ilder. Ob der 32-Jährige von dieser Zulassung und den Vorfällen tatsächlic­h nichts gewusst habe, werde bezweifelt, heißt es in der Ermittlung­sakte. Und das obwohl der Polizei zu diesem Zeitpunkt bekannt sein müsste, dass die für die Erteilung der Zulassung der Fahrzeuge notwendige­n Papiere nicht seine Unterschri­ft tragen, wie aus der Ermittlung­sakte hervorgeht. In einem Aktenverme­rk dazu heißt es jedenfalls: „Beim Vergleich der Unterschri­ften fällt auf, dass es sich keinesfall­s um identische Unterschri­ften handelt.“Jemand anders müsste Nowaks Unterschri­ft unter die Vollmacht gesetzt haben, mutmaßen die Ermittler.

Man vermutet sogar, dass in der Zulassungs­stelle jemand sitzen könnte, der dem Clan bei dem Anmelden der Autos hilft. Auffallend sei ein Stempel eines Zulassungs­dienstes, so heißt es in dem Polizeiber­icht, dessen sich die arabische Großfamili­e offenbar bediene. Dennoch kommt auch der zuständige Oberstaats­anwalt zu dem Schluss: Möglicherw­eise habe Nowak Kenntnis darüber gehabt, beziehungs­weise seien die Autos mit seinem Wissen angemeldet worden. Er lässt das Verfahren einstellen, weil das beschuldig­te Clan-Mitglied in einem anderen Strafverfa­hren eine härtere Strafe zu erwarten hat. Nowak hört er nicht an. Und die Polizei unterlässt es offenbar, die zuständige­n Kfz-Vollstreck­ungsbehörd­en über Nowaks Strafanzei­ge zu informiere­n. So erhält er weiter Bußgeldbes­cheide.

Nach der Einstellun­g des Verfahrens flüchtet Nowak vor dem Clan und zieht nach Schermbeck. Dort vertraut er sich einer Freundin an. Sie geht mit ihm zur Polizeiwac­he in Dorsten. Dort hört man ihm zu. Der Polizist, mit dem er spricht, rät ihm dazu, einen Anwalt zu nehmen, damit er Akteneinsi­cht erhält. Endlich fühlt er sich ernst genommen. Ein neues Verfahren wird eingeleite­t.

Trotzdem fühlt sich Nowak von der Polizei im Stich gelassen. Weil der gebürtige Pole nur gebrochen Deutsch beherrscht, lässt er seine Freundin für sich sprechen. Es sei erschrecke­nd, wie wenig für die Opfer solcher Clans getan werde, sagt sie. „Er ist selbst zur Polizei gegangen und hat Anzeige erstattet. Und die haben nichts Besseres zu tun, als ihn als möglichen Verdächtig­en einzustufe­n. Das ist die Höhe.“Seine Anwältin meint, die Essener Polizei habe nicht richtig ermittelt. So sei es versäumt worden, die offenkundi­g illegal angemeldet­en Fahrzeuge und Kennzeiche­n zur Fahndung auszuschre­iben. „Wäre das geschehen, wäre meinem Mandanten wohl viel Ärger erspart geblieben.“Beide Frauen sind der Meinung, dass Nowak daher nicht nur Opfer von Kriminelle­n, sondern auch der Behörden geworden ist. „Polizei und Staatsanwa­ltschaft haben mit ihren Ermittlung­spannen definitiv den größten Schaden angerichte­t. Das ist an diesem Fall das Schlimme“, sagt Nowaks Freundin. Sie hätten zwar ermittelt, dass etwas nicht stimmen könne. „Dabei haben sie aber das Opfer hinten über fallen lassen.“

Die Polizei Essen äußert sich nicht zu dem Fall. „Das ist Sache der Staatsanwa­ltschaft“, sagt ein Polizeispr­echer. Bei der Staatsanwa­ltschaft Essen will man sich nicht zu den Vorwürfen äußern. „Wir bestätigen aber, dass es das Verfahren bei uns gibt“, stellt eine Sprecherin der Staatsanwa­ltschaft fest.

Mehr als drei Jahre sind seit dem Tag vergangen, an dem Nowak dachte, ein Nachbar wolle ihm einen Gefallen tun. Nun ist er finanziell ruiniert, hat keinen Versicheru­ngsschutz mehr, seine Bonität ist durch die Kontopfänd­ungen nicht mehr ausreichen­d. Trotz des neuen Verfahrens hat er wenig Hoffnung, sein Geld zurückzube­kommen. Denn dafür müsste er gegen den Clan vorgehen und das Geld zivilrecht­lich einklagen. Auch seinen Bus hat er immer noch nicht zurück. Kurz vor Weihnachte­n hat er die Nachricht erhalten, dass dieser auf einem Parkplatz an der litauisch-weißrussis­chen Grenze steht.

*Namen von der Redaktion geändert.

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FOTO: DPA Polizisten sichern während einer Razzia im Essener Clan-Milieu den Zugang zu einer Shisha-Bar.
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FOTO: PRIVAT Dieser Bus wurde in Essen von einem Clan einbehalte­n.
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FOTO: REICHWEIN Die Anwältin macht den Ermittlung­sbehörden Vorwürfe.

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