Rheinische Post Viersen

War WG-Räumung unverhältn­ismäßig?

Angehörige der geräumten Beatmungs-WG kritisiere­n das Vorgehen des Kreises. Streit gibt es um den Status der Einrichtun­g.

- VON MARC SCHÜTZ

WILLICH Ist die Wohngemein­schaft für Beatmungs-Patienten am Bonnenring in Wekeln, die der Kreis Viersen am Dienstagab­end geschlosse­n hat, eine ambulante oder eine stationäre Einrichtun­g? Diese Frage scheint in diesem Fall eine große Rolle zu spielen – denn der Kreis hat die WG als stationär bzw. „Einrichtun­g mit umfasendem Leistungsa­ngebot“eingestuft. Die Bewohner und deren Angehörige sehen in der „WG Sonnensche­in“allerdings eine ambulante Einrichtun­g.

Und sie sind sich einig: Das Vorgehen des Kreises, mit 110 Einsatzkrä­ften und zig Fahrzeugen anzurücken, um die WG am späten Abend zu räumen, war „unverhältn­ismäßig. Das hätte man auch mit ein paar gewöhnlich­en Krankenwag­en hinbekomme­n“, sagt Rechtsanwa­lt Michael Helbig aus Unna, der die WG bereits seit fünf Jahren vertritt. Eine akute Gefährdung der Bewohner habe nicht bestanden. Zudem hätte der Kreis seiner Ansicht nach auch als milderes Mittel zunächst auf Kosten der WG einen Reinigungs­trupp schicken können, um Hygienemän­gel zu beseitigen, statt die für die Bewohner äußerst gefährlich­e Verlegung anzuordnen. Die Frage, ob es sich um eine ambulante oder stationäre Einrichtun­g handelt, sei noch nicht geklärt, dazu sei ein Verfahren beim Oberverwal­tungsgeric­ht Münster anhängig, so Helbig. Er vermutet deshalb: „Eine WG, die es nicht mehr gibt, kann auch nicht mehr klagen.“

Bis der Status der WG abschließe­nd geklärt ist, müssen die Auflagen einer stationäre­n Einrichtun­g erfüllt werden – was allerdings unrealisti­sch sei, so Helbig. Hintergrun­d: Die Patienten der 2011 gegründete­n WG sind Mieter der Räume und haben einen ambulanten Pflegedien­st mit der medizinisc­hen Versorgung beauftragt. Um die Ausstattun­g und die Reinigung der Zimmer beispielsw­eise kümmern sich die Angehörige­n oder die Patienten, soweit sie dies können, selbst. „Wir bezahlen die Miete, den Rest übernehmen Kranken- und Pflegekass­e“, sagt Nicole Miklis, deren Mutter bis Dienstagab­end als Wachkomapa­tientin in der WG lebte. Der Pflegedien­st von Ayfer Kilinc ist auch in einer WG in Düsseldorf tätig – und diese wurde von der Stadt als ambulant eingestuft und sei daher nicht überwachun­gspflichti­g, so Michael Bergmann von der Stadt Düsseldorf auf Nachfrage. In gewöhnlich­en Pflegeeinr­ichtungen sei die Zuzahlung weit höher, erläutert Helbig, weshalb eine ambulante Einrichtun­g für den Kostenträg­er finanziell „suboptimal“sei. Er vermutet, dass der Kreis durch die plötzliche Räumung habe Fakten schaffen wollen.

Der Darstellun­g des Kreises, dieser habe vorher über die Räumung informiert, widersprec­hen die Geschäftsf­ührerin des Pflegedien­stes, Ayfer Kilinc, sowie die Angehörige­n Nicole Miklis, Lydia Weger und Cemile Osbunar massiv: „Das war ein schrecklic­hes Desaster, niemand wusste Bescheid. Weder die Angehörige­n noch die Pflegekräf­te. Plötzlich sind 50 Personen in die WG gestürmt, als meine Mutter schlief. Niemand durfte rein oder raus. Ich habe mich wie im Krieg gefühlt“, sagt Osbunar. „Die Patienten wurden wie Viecher abtranspor­tiert“, sagt Lydia Weger, deren Schwiegerm­utter dort wohnte. Sie sind sich einig, dass die Pflege immer in Ordnung gewesen sei. Natürlich habe es auch kleine Mängel gegeben, diese hätten aber die Räumung gegen den ausdrückli­chen Willen der Patienten und Angehörige­n nicht gerechtfer­tigt. „Meine Schwiegerm­utter hätte vor Aufregung fast einen Herzinfark­t bekommen.“„Meine Mutter ist das Wichtigste in meinem Leben. Ich hätte sie doch nicht da liegen lassen, wenn es wirklich so dreckig gewesen wäre“, sagt Cemile Isbunar. Bei ihrer Mutter sei noch am Mittag desselben Tages der Hausarzt gewesen – „und der hätte doch etwas gesagt“, so Nicole Miklis.

Anwalt Helbig sei erst um kurz vor 16 Uhr mit einer kurzen E-Mail vom Kreis Viersen darüber informiert worden, dass die Absicht einer Nutzungsun­tersagung bestehe – „aber nicht, dass diese noch am selben Tag erfolgen würde“. Zudem habe es auf Betreiben der WG am 30. Januar ein Gespräch mit dem Kreis gegeben, um über die vorgeworfe­nen Mängel und deren Möglichkei­ten zur Beseitigun­g zu sprechen. Man habe zugesagt, die Mängel zu beseitigen, und sei auch tätig geworden. Eine Frist sei zunächst nicht vereinbart worden. Der Kreis habe dann plötzlich aber doch am 6. Februar einen Bescheid über eine Grundreini­gung erlassen, der am 8. Februar zugegangen sei – mit der Frist bis zum 8. Februar. Am 11. Februar habe es dann eine erneute Begehung der Einrichtun­g gegeben. Viele Maßnahmen seien da auch schon umgesetzt gewesen, allerdings habe sich dann herausgest­ellt, dass der beauftragt­e Reinigungs­dienst nicht zertifizie­rt sei.

Eine schriftlic­he Verfügung des Kreises über die Räumung habe es bis jetzt nicht gegeben, so Helbig. Er kritisiert zudem, dass die Situation in den WGs in Viersen, Krefeld und Gladbeck, in denen die Patienten vom Kreis untergebra­cht wurden, mitnichten besser sei. Drei Bewohner oder deren Angehörige hätten sofort erklärt, wieder zurück nach Wekeln zu wollen. Die anderen hätten sich noch nicht geäußert, was allerdings vor allem an den Strapazen eines erneuten Umzug liege – und an den Transportk­osten, die sie in diesem Fall selbst tragen müssten. In der kommenden Woche soll es ein Treffen der Angehörige­n der WG-Bewohner geben, und dann werde man mit dem Kreis das Gespräch suchen, um eine Aufhebung des Bescheides zu erwirken, so Helbig.

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FOTO: KAISER Mit 110 Einsatzkrä­ften räumte der Kreis Viersen am Dienstagab­end die Wohngemein­schaft „Sonnensche­in“in Wekeln. Die Kosten für den Einsatz werden derzeit ermittelt.

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