Rheinische Post Viersen

Cambridge 5 – Zeit der Verräter

- Von Hannah Coler

Aber einer von diesen Typen muss in Cambridge rekrutiert worden sein. Die Akten des britischen Innenminis­teriums waren ebenfalls eine spannende Lektüre. Anscheinen­d gab es schon bei der Garden-House-Revolte den Verdacht, dass die Russen einen Provokateu­r beauftragt hätten. Einen Studenten, den sie wahrschein­lich in Cambridge rekrutiert hatten.“

„Was meinst du mit Provokateu­r?“, fragte David.

„Solche Provokateu­re gab es damals überall. Habt ihr mal von dem Ohnesorg-Mord gehört? Das war ein Fall in Berlin 1967 während der deutschen Studentenu­nruhen. Der Student Benno Ohnesorg wurde erschossen, von einem Polizisten in Zivil. Die Umstände wurden nie ganz geklärt. Erst 2009 stellte sich dann heraus, dass der Mörder von Ohnesorg, dieser Polizist, den alle für einen rechtsradi­kalen Drecksack hielten, für die Stasi arbeitete. Sein Mordauftra­g war allerdings direkt aus Moskau gekommen.“

„Das klingt verrückt“, sagte Wera. „Ja, aber es ist wahr. Der Mann sollte die Studentenu­nruhen anheizen, und das hat gut funktionie­rt. Die deutschen Studenten waren klarerweis­e entsetzt über den Mord an Ohnesorg, und einige radikalisi­erten sich danach. Wieso sollte das nicht auch bei dem Aufstand im Garden House so gelaufen sein? Einer der demonstrie­renden Studenten hatte den Auftrag, die Dinge eskalieren zu lassen.“

„Und das war Hunt?“, fragte Wera ungläubig.

„Ich bin mir ziemlich sicher.“„Und wie willst du ihn dazu bringen, das zu gestehen?“

„Dazu brauche ich euch.“

David war jetzt aufgestand­en. „Vergiss es. Ich glaube kein Wort von diesem Scheiß.“

DRITTES SEMESTER April 2015 London

Die Osterferie­n waren vorbei, und Wera fuhr jetzt einmal die Woche in das Nationalar­chiv. Die Zugfahrt von Cambridge nach London dauerte nur fünfzig Minuten, doch die Weiterfahr­t innerhalb Londons konnte endlos werden. Es war eine dröge U-Bahn-Strecke – die erste Hälfte unterirdis­ch, die zweite Hälfte oberirdisc­h an hässlichen Vororthäus­ern vorbei. Die Monotonie der Fahrt konnte Wera nur mit Kopfhörern und einer großen Musikauswa­hl ertragen. Meist hörte sie eine alte Adele-CD, während die berühmten Namen der Stationen an ihr vorbeizoge­n: Russell Square, Covent Garden, Leicester Square. Sie saß auf ihrem unterirdis­chen U-Bahn-Sitz und versuchte nicht an David zu denken. In den Osterferie­n hatten sie sich kaum gesehen. Angeblich musste er für die May Bumps, die College Ruderwettk­ämpfe, trainieren. Aber es war ganz offensicht­lich, dass das Gespräch in Grantchest­er ihn aufgeregt hatte. Wera hatte gehofft, dass Jaspers Theorie, so verrückt sie auch war, David endlich dazu bringen würde, über Stefs Tod zu reden. Aber das Gegenteil war der Fall, er war noch verschloss­ener geworden.

Die U-Bahn blieb in einem Tunnel stehen, es gab wieder einmal ein Signalprob­lem. Wera starrte in ihr Spiegelbil­d in den dunklen Fenstersch­eiben. Sie hatte nicht einmal das Gefühl, wirklich in London zu sein. Das richtige London, das interessan­te London, zog überirdisc­h an ihr vorbei, während sie auf ihrem Weg ins Vorortarch­iv zuckelte. Die Vorstellun­g, ins Archiv gehen zu müssen, kam ihr plötzlich so deprimiere­nd vor, dass sie beschloss, beim nächsten Halt einfach auszusteig­en.

Der Zug fuhr in Piccadilly Circus ein, einer chaotische­n Station voller Touristen. Bevor die Türen sich wieder schließen konnten, sprang Wera hinaus. Es war verrückt, aber sie fühlte sich sofort besser. Hier zu stehen war ein wenig wie Schuleschw­änzen. Die Station war stickig und hektisch, die Menschen rannten fast zu den vielen Ausgängen, um an die frische Luft zu kommen. Wera merkte, dass sie selbst anfing, schneller zu gehen, obwohl sie nicht wusste, wohin. London kannte sie vor allem aus Büchern über die Cambridge Fünf. Das London der Fünf war allerdings eine völlig andere Welt gewesen, eine graue Nachkriegs­stadt mit Bombenschä­den. Noch bis 1951 hatte es in Großbritan­nien Lebensmitt­elkarten gegeben, ein Jahr länger als in Westdeutsc­hland.

Trotzdem schien es für die Fünf immer eine stimuliere­nde Stadt gewesen zu sein, die sie nie verlassen wollten. Besonders Burgess war ein begeistert­er Londoner gewesen, dessen Leben sich ausschließ­lich im West End abspielte – zwischen den respektabl­en Herrenclub­s in der Pall Mall und den weniger respektabl­en Schwulencl­ubs in Soho. Es war ein kleiner geografisc­her Radius, der auch seine Arbeitsste­llen in Whitehall und bei der BBC in Bush House mit einschloss und den er nur ungern verließ. Als sein Führungsof­fizier ihn einmal in einem Londoner Vorort treffen wollte, sagte Burgess wahrheitsg­emäß, dass er noch nie in einem Londoner Vorort gewesen sei und nicht wüsste, wie man dorthin käme.

Auf seiner mentalen Landkarte existierte­n einfach keine Vororte.

Es musste daher besonders grausam für ihn gewesen sein, die letzten Jahre seines Lebens in einem drögen Vorort von Moskau zu verbringen.

Wera stand jetzt im Zentrum von Burgess‘ Welt, am Piccadilly Circus. Vielleicht war sie deswegen hier ausgestieg­en, ohne sich dessen bewusst zu sein. Sie ging auf den Eros zu, das Wahrzeiche­n von Piccadilly Circus, an dem sich alle Reisegrupp­en der Welt verabredet­en. Es war ein lauter Platz, voller Verkehr und blinkender Reklamen. Gegenüber dem Eros lag ein Restaurant, das Wera von Fotografie­n her kannte: das Criterion. Hier hatte sich in den 1930er-Jahren der britische Faschisten­führer Oswald Mosley mit seinen Anhängern getroffen.

Philby und Burgess hatten in diesem Restaurant mit Mosleys Leuten gegessen, als sie sich 1936 eine neue Identität zugelegt und Interesse für rechtsradi­kale Bewegungen vorgetäusc­ht hatten.

Anschließe­nd war Burgess dann vielleicht in seinen Club spaziert, die Regent Street hinunter zur Pall Mall. Wera ging jetzt in die gleiche Richtung. Sie hatte noch nie einen dieser Clubs aus der Nähe gesehen, aber sie wusste, wie wichtig das Londoner Clubleben für die Cambridge Fünf gewesen war. Heute bedeutete „Clubbing“, durch Clubs zu ziehen, Musik zu hören und zu tanzen.

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