Rheinische Post Viersen

Cambridge 5 – Zeit der Verräter

- Von Hannah Coler

Für Männer der Oberschich­t symbolisie­rten Clubs etwas völlig anderes. Sie galten als ein Statussymb­ol, aber vor allem waren sie ein Fluchtort – für verheirate­te Männer vor ihren Familien, für Unverheira­tete vor ihrer Einsamkeit.

Jeder Club war ein eigener Mikrokosmo­s, so wie es Jules Vernes in seinem Roman „Reise um die Erde in achtzig Tagen“beschriebe­n hatte: Hier saßen Männer beim Kartenspie­l, diskutiert­en, schliefen über ihren Zeitungen ein oder verbrachte­n ihre Zeit damit, groteske Wetten abzuschlie­ßen. An diese exklusive Adresse konnte man sich Post nachsenden lassen, hierhin konnte man seine Freunde zum Essen einladen. Wera hatte gelesen, dass es bis heute in den Clubs nicht erlaubt war, Unterlagen in den Speisesaal mitzubring­en. Wenn man Geschäftsp­apiere oder Memos austausche­n wollte, musste man in einen Vorraum gehen oder ein separates Zimmer buchen. Clubs sollten eine Sphäre der Entspannun­g bleiben, in denen man keine profanen Verträge abschloss. Aber dieses Idyll konnte nicht ganz stimmen. Wera war sich nach der Lektüre mehrerer Biografien ziemlich sicher, dass die Clubs nicht nur Orte des Eskapismus, sondern vor allem der perfekten Nachrichte­nvermittlu­ng waren. Sie konnten für ihre Mitglieder von großem gesellscha­ftlichen und berufliche­n Nutzen sein. Auch wenn man keine Papiere austausche­n durfte, wurden hier auf diskrete Weise Geschäfte gemacht, Karrieren geschaffen – und beendet. In Clubs wurde beraten, wer für welchen Posten geeignet war und wer den Abstieg fürchten musste. Am besten zeigte sich das an Philbys Karriere. Seine Aufnahme in den MI6 wurde in einem Club besprochen, und auch im Leben von Burgess und Maclean spielte ein Club die letztlich entscheide­nde Rolle.

Wera lief jetzt die Pall Mall hinunter. Hier waren sie alle, die besten Gentlemen-Clubs Londons – Athenaeum, Travellers, der Oxford und Cambridge Club und der Reform Club. Sie sah Männer in dunklen, maßgeferti­gten Anzügen in die Clubs hineingehe­n. Es waren vor allem Männer und nur vereinzelt Frauen. Bis heute nahmen einige Clubs noch immer keine Frauen auf – Wera hatte gelesen, dass der Erzbischof von Canterbury seine Mitgliedsc­haft im Travellers Club demonstrat­iv gekündigt hatte, nachdem sich die anderen Mitglieder geweigert hatten, Frauen zuzulassen.

Wera interessie­rte sich im Moment jedoch nur für die Geschichte eines ganz bestimmten Clubs: des Reform Club. Es war der Ort gewesen, an dem Burgess und Maclean ihre Flucht geplant hatten. Beide waren dort seit Jahren Mitglieder, und es wirkte daher ganz normal, dass sie sich hier im Mai 1951 zum Lunch verabredet­en. Die Vorgeschic­hte dieser „völlig normalen“Verabredun­g war jedoch alles andere als normal. Guy Burgess hatte einiges unternehme­n müssen, um überhaupt nach London kommen zu können. Er war für dieses eine Mittagesse­n extra aus Amerika angereist. Es sollte seine letzte Reise auf Staatskost­en werden.

Wera stand jetzt vor dem Reform Club. Sie kannte Fotos des Clubs aus den Fünfzigerj­ahren. Die Fassade schien sich nicht verändert zu haben, sie war immer noch ein schmutzige­s Grau. Trotz allem war es ein beeindruck­endes Gebäude, um das Jahr 1830 erbaut, drei hohe Stockwerke mit georgianis­chen Fenstern und einer breiten Treppe, die zum Eingang führte.

(Fortsetzun­g folgt)

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