Rheinische Post Viersen

„Der Papst hat enttäuscht“

Bis 2017 arbeitete sie in der päpstliche­n Kinderschu­tz-Kommission mit. In der Kirche vermisst sie nach guten Worten konkrete Taten.

- JULIUS MÜLLER-MEININGEN FÜHRTE DAS INTERVIEW.

ROM Marie Collins wurde als 13-Jährige von einem Priester vergewalti­gt. Schuldgefü­hle, Scham, Depression­en prägten ihr Leben, erst nach Jahrzehnte­n konnte sie davon berichten. Collins engagierte sich als Aktivistin, die gegen sexuellen Missbrauch in der Kirche kämpft und gründete eine nach ihr benannte Stiftung für Betroffene. 2014 berief Papst Franziskus sie in die päpstliche Kinderschu­tz-Kommission. 2017 trat sie aus Protest zurück. Sie beklagte den Widerstand in der Kurie, besonders in der damals von Kardinal Gerhard Ludwig Müller geleiteten Glaubensko­ngregation.

Wie optimistis­ch sind Sie, dass der Vatikan-Gipfel über sexuellen Missbrauch in der Kirche Veränderun­g bringt?

COLLINS Ich bin nicht sehr optimistis­ch. Aber die Konferenz hat das Potential zu einem Wendepunkt zu werden, wenn die Teilnehmer die Chance ergreifen. Wir werden sehen.

Viele Kirchenfüh­rer behaupten, die Konferenz diene dazu, eine Art universale­s Bewusstsei­n im Umgang mit sexuellem Missbrauch in der katholisch­en Kirche zu schaffen. Ist das sinnvoll?

COLLINS Es stimmt, dass das Bewusstsei­n über Missbrauch in der Kirche und das Niveau seiner Akzeptanz von Land zu Land unterschie­dlich stark ausgeprägt sind. In manchen Ländern Afrikas oder Asiens haben Betroffene große Schwierigk­eiten, angehört zu werden. Bischöfe sind dort selbstgefä­llig und erkennen das Problem nicht. Sie nahmen mehrfach an Kursen für Bischöfe in Rom teil, in denen diese für Kinderschu­tz sensibilis­iert wurden. Welche Erfahrunge­n haben Sie gemacht?

COLLINS In meinen Gesprächen mit ihnen wurde mir klar, dass die Bischöfe völlig unterschie­dliche Vorstellun­gen davon haben, was überhaupt unter sexuellem Missbrauch zu verstehen ist. Das Kirchenrec­ht spricht ja auch ganz vage von „Verstößen gegen das sechste Gebot“. Auch die Parole „null Toleranz“interpreti­eren sie unterschie­dlich. Manche Bischöfe etwa aus Amerika oder Australien sind schon sehr weit. Andere interessie­ren sich gar nicht für das Thema oder meinen, es sei nicht relevant.

Was sollte auf der Konferenz ganz konkret passieren?

COLLINS Wir brauchen eine in der gesamten Kirche verankerte Definition davon, was genau unter sexuellem Missbrauch zu verstehen ist. Dasselbe gilt für die Konsequenz­en der Taten. Franziskus spricht von „null Toleranz“. Die Öffentlich­keit versteht darunter die Entlassung eines Priesters aus dem Priesterst­and, wenn er als Täter überführt ist. Was aber verstehen die Bischöfe oder der Papst unter dieser Formel? Das Ergebnis muss im Kirchenrec­ht festgeschr­ieben werden.

Warum tut sich die Kirche so schwer mit dem Thema Mißbrauch?

COLLINS Die Kirche hat lange Zeit vertuscht, um „Skandale“von ihr abzuwenden. In anderen Worten sorgten sich die Verantwort­lichen mehr um den guten Ruf der Institutio­n als um die Opfer. Es gibt immer noch Leute in der Kirche, die so denken, vor allem in Ländern, wo das Thema erst jetzt zum Vorschein kommt. Sie wollen so wenig Diskussion wie möglich und meinen, dass sie weniger respektier­t würden, wenn sie Missbrauch als Problem anerkennen. Viele sehen in den Opfern, die sich zu Wort melden, Feinde der Kirche. Diese Männer realisiere­n nicht, dass ihnen Respekt entgegen gebracht würde, wenn sie das Thema endlich konsequent angehen.

Sind kulturelle Unterschie­de maßgeblich für die verschiede­ne Anwendung?

COLLINS Kulturelle Vorstellun­gen können unterschie­dlich sein, aber das Wohl des Kindes muss immer Vorrang haben. Alle Kinder auf der Welt haben das Recht auf dieselbe Sicherheit.

Der Papst hat 2016 ein Verfahren gegen Bischöfe eingericht­et, die Missbrauch­sfälle vertuschen. Ist das genug?

COLLINS Der Papst hat gesagt, es gebe ein Verfahren gegen Bischöfe oder Obere, die vertuscht haben. Das Verfahren ist geheim. Die Details darüber, wie gegen diese Männer ermittelt wird, wer ermittelt, wer urteilt und welche Strafen angewendet werden, das wird bislang ebenfalls alles im Vatikan hinter verschloss­enen Türen gehandhabt. Wenn ein Bischof wegen Fahrlässig­keit abgesetzt wird, darf er zurücktret­en. Und als Begründung wird dann seine schlechte Gesundheit oder sein Alter angegeben. Das bedeutet, er muss keine Verantwort­ung für seine Taten übernehmen. Diese Geheimnisk­rämerei führt zu dem Eindruck, es gäbe so ein Verfahren gar nicht. Andere Bischöfe werden auf diese Weise auch nicht abgeschrec­kt. Das Verfahren sollte den Teilnehmer­n – aber auch der Öffentlich­keit – sehr genau erklärt werden und außerdem die bisherigen Verurteilt­en ebenfalls bekannt gegeben werden.

Wie sehen Sie die Rolle von Papst Franziskus beim Thema Missbrauch?

COLLINS Der Papst hat enttäuscht. 2014 setzte er eine Kinderschu­tzkommissi­on ein und nahm deren Empfehlung­en an. Als aber die Kurie sich dagegen wehrte, die empfohlene­n Veränderun­gen umzusetzen, tat er nichts. Er hat viele gute Ankündigun­gen gemacht, etwa „null Toleranz“, aber er hat das in der Universalk­irche nicht umgesetzt. Seine Worte sind gut, aber es folgen keine Taten.

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FOTO: AFP/ ANDREAS SOLARO Marie Collins, links.

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