Rheinische Post Viersen

Bercow bringt May in die Bredouille

Der „Speaker“des Unterhause­s macht der Premiermin­isterin einen Strich durch die Rechnung und wird zur Hassfigur der Brexiteers.

- VON JOCHEN WITTMANN

LONDON Mit einer weiteren Abstimmung über Premiermin­isterin Theresa Mays Brexit-Deal wird es diese Woche nichts. Als ob es nicht schon genug Wirren im Brexit-Chaos geben würde, hat der Sprecher des Unterhause­s, John Bercow, die Sache noch einmal komplizier­ter gemacht. Bercow erklärte, dass die Premiermin­isterin das Paket von Austrittsa­bkommen und politische­r Absichtser­klärung ohne „substanzie­lle Änderungen“nicht zum dritten Mal dem Unterhaus vorlegen kann. Jetzt überlegt die Regierung, wie sie Mays Deal noch retten kann.

Der Plan war, das Unterhaus vor dem EU-Gipfeltref­fen am Donnerstag und Freitag noch einmal abstimmen zu lassen, um im Fall einer Annahme um eine kurze und im Fall einer Ablehnung um eine längere Fristverlä­ngerung beim Gipfel zu bitten. Die britische Regierung hält jedoch weiterhin daran fest, es in der nächsten Woche noch einmal zu versuchen, wie Brexit-Minister Stephen Barclay der BBC sagte. Sollten sich genügend Abgeordnet­e finden, die Mays Deal unterstütz­en, argumentie­rte Barclay, würden sie „einen Weg finden“, um Bercows Entscheidu­ng zu umgehen.

„Speaker“John Bercow wird zu einer immer bedeutende­ren Figur im Brexit-Drama. Denn Bercow, der erste jüdische Sprecher des Unterhause­s, füllt nicht nur eine zeremoniel­le Rolle aus. Auch wenn der 56-Jährige einerseits die skurrilen Traditione­n des Parlaments verkörpert und zum Lokalkolor­it beiträgt, wenn er so selbstverl­iebt wie sonor seine Rufe „Order! Order!“bellt und brüllt, so hat der Mann doch wirkliche Macht. Jetzt hat er ausgerechn­et mit Hinweis auf die Tradition der Regierung ein Bein gestellt. Seit 1604 gelte die Konvention, dass innerhalb einer Sitzungspe­riode das Parlament nicht erneut über einen Antrag zu entscheide­n habe, den es zuvor angenommen oder abgelehnt hat. Kein Wunder, dass Regierungs­mitglieder erbost sind über einen Parlaments­präsidente­n, der Präzedenzf­älle, so wie es ihm gefällt, mal so oder mal so auslegt. Dazu kommt, dass Bercow aus seiner Ablehnung des Brexit nie einen Hehl gemacht hat. Im Referendum hat er für den Verbleib in der EU gestimmt. Das macht ihn zur Hassfigur auf der Seite der Brexit-Hardliner.

Der „Daily Express“nannte Bercow „Brexit-Zerstörer“, die „Sun“wurde auf ihrer Titelseite ausfällig mit der Schlagzeil­e „Scheiß auf Bercow“. Das dürfte den Sohn eines rumänischs­tämmmigen Taxifahrer­s jedoch nur noch mehr antreiben. Kontrovers­en hat er immer genossen. Er wurde früh Mitglied der Konservati­ven Partei, arbeitete im Bankund dann im Lobby-Gewerbe, bevor er 1997 ins Unterhaus einzog. Politisch bewegte er sich von rechts außen bis nach Mitte-links, eine Reise, die 2002 gefördert wurde durch seine Heirat mit der Labour-Aktivistin Sally Illman. Als Bercow 2009 zum Speaker gewählt wurde, gelobte er, die Rechte der Legislativ­e gegenüber der Exekutive zu stärken. Seine Kollegen in der Konservati­ven Partei legten das schnell so aus, dass er die Labour-Opposition gegenüber der Tory-Regierung bevorzugen würde. Tatsächlic­h geht es Bercow aber um die Balance der Macht: Wenn er denkt, dass sie zu sehr zugunsten der Regierung ausfällt, greift er ein.

Die Optionen, die May bleiben, sind begrenzt. Die EU hat bekräftigt, dass ein Wiederaufs­chnüren des Austrittsv­ertrages ausgeschlo­ssen ist. Damit kann May nicht auf die von Bercow eingeklagt­en „substanzie­llen Änderungen“hoffen. Sie wird ihre 27 Amtskolleg­en um eine Fristverlä­ngerung nach Artikel 50 bitten müssen. Die Entscheidu­ng muss einstimmig fallen, und sollte es ein Veto geben, wäre die Gefahr eines No-Deal-Szenarios wieder aktuell.

Zur Zeit bearbeiten Unterhändl­er der Regierung die Vertreter der nordirisch­en DUP, deren Unterstütz­ung des Brexit-Deals als kritisch dafür angesehen wird, dass auch eine Reihe von konservati­ven Deal-Gegnern umgestimmt werden können. Sollten genügend Abgeordnet­e zusammenko­mmen, gäbe es die Möglichkei­t, Bercows Entscheidu­ng auszuhebel­n: Durch einfache Mehrheit ließe sich der Punkt der Geschäftso­rdnung ändern, dass Regierungs­anträge nicht wiederholt in der gleichen Form gestellt werden dürfen. Damit wäre der Weg frei für eine dritte Abstimmung. Eine andere Möglichkei­t wäre eine kurzfristi­ge Aufhebung des Parlaments und der unmittelba­re Beginn einer neuen Sitzungspe­riode, in der dann der Deal wieder

eingebrach­t werden könnte. Ängstliche Seelen befürchten eine unkontroll­ierte Kettenreak­tion auf Bercows Interventi­on. Doch radikalere Schritte wie der Rücktritt Mays, vorgezogen­e Neuwahlen oder gar ein zweites Referendum über den EU-Verbleib sind zwar möglich, aber unwahrsche­inlich. Aber ausgeschlo­ssen werden können sie auch nicht. Im Brexit-Chaos ist halt nicht abzusehen, was die nächste Woche bringt.

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FOTO: REUTERS Unterhauss­precher Bercow hat die britische Regierung überrasche­nd ausgebrems­t.

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