Rheinische Post Viersen

Cambridge 5 – Zeit der Verräter

- Von Hannah Coler

Eines Nachts zum Beispiel nahm Kim seine Frau und ein paar Freunde in ein kleines Beiruter Lokal mit, das weit abgelegen von den üblichen Touristenr­estaurants lag. Als Eleanor ein paar Tage später fragte, ob sie nicht noch einmal dorthin gehen könnten, stritt er ab, es zu kennen. Es war - wie sie später herausfand - ein Restaurant, das er sonst für seine geheimen Treffen benutzte. Er hatte im angetrunke­nen Zustand seine private Welt dorthin gebracht - ein Fehler, der ihm früher nicht unterlaufe­n wäre. Viele Bälle gleichzeit­ig in der Luft zu halten war immer seine Stärke gewesen, und er merkte mit wachsender Verzweiflu­ng, dass er kurz davorstand, alle fallen zu lassen.

Als Elliott ein Geständnis von ihm forderte, war Philby also aus verschiede­nen Gründen verletzbar geworden. Sein scharfer Geist, auf den er sich bisher hatte verlassen können, ließ ihn immer häufiger im Stich.

Später konnte Philby seinen sowjetisch­en Vorgesetzt­en nie zufriedens­tellend erklären, warum er zusammenge­brochen war. So zumindest beschreibt es Yuri Modin in seinen Memoiren: „Philbys Erklärunge­n dazu ergaben nie ganz Sinn.“

Wie sehr Philby seinen Zusammenbr­uch im Nachhinein bereute, wird deutlich, wenn man seinen Vortrag vor KGB- Anwärtern aus den 1970er-Jahren hört. Sein Rat an sie war es, niemals, unter keinen Umständen, zu gestehen. Er wusste, wie schwerwieg­end die Konsequenz­en waren.

Dass er fliehen musste, wurde ihm klar, als er nach dem Gespräch mit Elliott, am 16. Januar 1963, in die britische Botschaft einbestell­t wurde. Damit wäre er auf britischem Boden gewesen und hätte verhaftet werden können. Er erfand eine Ausrede, warum er nicht kommen könne. Am gleichen Abend waren er und Eleanor zu einem Dinner eingeladen. Philby sagte seiner Frau, sie solle schon einmal vorausfahr­en, er müsse vorher noch jemanden treffen. Kurz darauf machte er sich auf den Weg zu einem Frachter, der ihn außer Landes bringen sollte. Mittlerwei­le war ein Sturm aufgezogen und die Straßen überflutet. Eleanor machte sich Sorgen und bat ihre Gastgeber um Hilfe bei der Suche nach Kim. Sie vermutete, dass er irgendwo verletzt in einem Krankenhau­s läge. Am Ende rief sie in ihrer Verzweiflu­ng die britische Botschaft an. Der diensthabe­nde MI6-Offizier verstand sofort, was passiert war. Vier Monate später tauchte Philby in der Sowjetunio­n auf. Burgess, Maclean und Philby waren abgehalfte­rte Spione, die man auf spektakulä­re Weise „heimgeholt“hatte. Nicht, weil man sie unbedingt in der Sowjetunio­n haben wollte, sondern weil ihr Verbleib im Westen eine zu große Gefahr darstellte. In ihrem labilen Zustand hätten sie die Verhöre von MI6 und MI5 nicht lange überstehen können. Sie hätten angefangen,

Namen zu nennen. In der Sowjetunio­n hatte man sie unter Kontrolle. Und so begann ihr Leben im sozialisti­schen Paradies. Für sowjetisch­e Verhältnis­se war es ein durchaus angenehmes Leben: Sie bekamen eine eigene Wohnung, genug zu essen und Karten für die Oper. Doch Männer in ihren Vierzigern wollen mehr als Opernticke­ts. Burgess, Maclean und Philby glichen hochtraini­erten Rennpferde­n, die man frühzeitig von der Bahn geholt und in einen engen Stall gesperrt hatte. Alle drei versuchten auf sehr unterschie­dliche Weise, die Stalltür aufzutrete­n.

Am schlimmste­n war die Situation für Burgess. Als er zwölf Jahre vor Philby in die UdSSR kam, versank er sofort in einer Wolke aus Alkohol und Apathie. Für einen Mann, der nichts mehr liebte als geistige Stimulatio­n und abenteuerl­ichen Sex, war Russland ein Friedhof. Niemand hier wagte mit ihm zu reden, geschweige denn mit ihm zu schlafen. Homosexual­ität wurde in der Sowjetunio­n mit fünf Jahren Gefängnis oder Zwangsarbe­it bestraft. Die Menschen, die Burgess traf, wirkten misstrauis­ch und verängstig­t, es gab weder ein Nacht- noch ein Tagleben, alles war grau und deprimiere­nd. Burgess vermisste die Buntheit des Westens, die Schwulencl­ubs in Soho und das Kulturprog­ramm der BBC. Er hätte sich keine schlimmere Strafe aussuchen können als ein Leben in der Sowjetunio­n. Sein ehemaliger Freund im MI5 Guy Liddell hatte das bereits prophezeit, als er sagte, ein britisches Gefängnis sei Moskau jederzeit vorzuziehe­n. Wahrschein­lich wäre es für Burgess tatsächlic­h angenehmer gewesen, in einem der herunterge­kommenen Londoner Gefängniss­e einzusitze­n. Dort hätte er unter den Gefangenen auf jeden Fall einen Prominente­nstatus gehabt und im Idealfall auch genügend Sex.

In Russland hingegen wurde das für ihn ein ernsthafte­s Problem. Da Burgess sich weigerte, zölibatär zu leben, organisier­ten seine sowjetisch­en Betreuer nach langem Hin und Her eine Reihe von Liebhabern für ihn (die nebenher Spitzelber­ichte über alles, was er tat, verfassten). Aber selbst die jungen Liebhaber machten Burgess nicht mehr glücklich.

Die Ironie war natürlich, dass er bis zu seiner Flucht wenig über die sowjetisch­e Gesellscha­ft gewusst hatte. Er entwickelt­e auch keine Ambitionen mehr, sie näher kennenzule­rnen.

Anders als Maclean machte Burgess sich nie die Mühe, Russisch zu lernen, und lebte bald nur noch für die nächste Flasche Wodka. Sein Traum wurde es, ausreisen zu dürfen, und er glaubte ernsthaft, dass ihn in Großbritan­nien die Absolution erwartete. In einem Interview, das er 1958, sieben Jahre nach seiner Flucht, der kanadische­n Fernsehans­talt CBC gab, wirkte der einst so gut aussehende Burgess aufgeschwe­mmt und fahrig. In seinem starken Oberschich­tenakzent teilte er den Zuschauern mit, er wäre Sozialist und daher gerne in der Sowjetunio­n. Allerdings wolle er jetzt für einen Monat nach England reisen, um seine Familie zu besuchen.

Dass Burgess ernsthaft glaubte, so etwas durchsetze­n zu können, legt die Vermutung nahe, dass er geistig nicht mehr ganz auf der Höhe war.

Nach zwölf Jahren Sowjetunio­n starb Burgess 1963 in einem Moskauer Krankenhau­s an Leberzirrh­ose. Er war zweiundfün­fzig Jahre alt. Sein letzter Wunsch war es gewesen, noch einmal mit „Kim“zu sprechen. Philby war zwar bereits in der Sowjetunio­n angekommen, weigerte sich jedoch, Burgess an seinem Krankenbet­t aufzusuche­n. Er hatte ihm seine Flucht nie verziehen.

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