Rheinische Post Viersen

Der magische Teppich

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Als meine Oma starb, war ich 15 Jahre alt. Sie war schon länger krank, und doch war es für mich ein Schock, dass sie so plötzlich nicht mehr da war. Sie war doch mein ganzes Leben lang da gewesen – und ich hatte sie sehr geliebt.

Manches aus der Wohnung meiner Oma wanderte in unsere. Der Schrank aus Nussbaum kam ins Wohnzimmer. Und in mein Kinderzimm­er kam der Persertepp­ich meiner Großeltern. Den hatte ich schon als Vierjährig­er gern gehabt, war die Muster mit meinen Matchbox- und Siku-Autos abgefahren.

Schnell stellte ich fest, dass der Teppich magische Kräfte besaß. Denn näherte ich meine Nase den Textilfase­rn, hatte ich einen Geruch in der Nase, der mich unmittelba­r in die Wohnung meiner Großeltern katapultie­rte, mit meiner quick lebendigen Oma darin. Damals wusste ich noch nicht, dass Marcel Proust dieses Phänomen schon viele Jahrzehnte zuvor in seinem Roman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“beschriebe­n hatte: Wie ihn ein Schluck Lindenblüt­entee eindringli­ch und unerwartet an die Sonntagmor­gen aus einer vergessene­n Phase seiner Kindheit erinnerte. „Mit einem Mal war die Erinnerung da.“Aus wissenscha­ftlicher Sicht gibt es bisher keine endgültige Erklärung für das Phänomen. Neurowisse­nschaftler weisen auf den einzigarti­gen Weg hin, den Geruchsinf­ormationen in unserem Gehirn durchlaufe­n. Das Riechepith­el ist die einzige Stelle, an der das Zentralner­vensystem frei liegt und in direkten, ungefilter­ten Kontakt mit der Außenwelt tritt.

Ich habe den magischen Teppich geliebt, weil er mir meine Oma nach ihrem Tod zurückgebr­acht hat, wenn ich sie vermisste. Die Zeit vermag es, Wunden zu heilen. Und im selben Maße nahm die magische Wirkung des Teppichs ab. Sie ist für immer verduftet.

Martin Röse

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