Rheinische Post Viersen

„Leben gegen Leben ist das Horrorszen­ario“

Der Vorsitzend­e des Deutschen Ethikrats äußert sich zu Entscheidu­ngen über Leben und Tod in Zeiten der Corona-Krise.

- FOTO: DEUTSCHER ETHIKRAT MARTIN BEWERUNGE STELLTE DIE FRAGEN.

Die Corona-Krise wirft viele Fragen auf. Welche steht für den Ethiker Peter Dabrock im Vordergrun­d?

PETER DABROCK Das ethisch ganz große Thema ist die Frage: Was bedeutet Verantwort­ung? Einerseits gibt es ein klares Plädoyer, die Würde des Einzelnen, seine Selbstbest­immung und sein Leben zu schützen. Auf der anderen Seite müssen wir bedenken, dass die Gesellscha­ft angesichts der Vielzahl von Betroffene­n an die Grenze ihrer Kapazität gelangen könnte.

Viele Politiker sagen, sie hätten das Risiko unterschät­zt. Kann man von denen, die Verantwort­ung tragen, nicht etwas mehr erwarten? DABROCK Ich finde es wichtiger, nach vorne zu schauen. In der Krise geht es um Vertrauen. Für mich aber stärkt es Vertrauen, wenn Politiker auch eingestehe­n können, mit diesem Ausmaß nicht gerechnet zu haben, anderersei­ts aber deutlich machen: Jetzt versuchen wir alles. Ich finde das besser als Verlautbar­ungen etwa aus China oder den USA, die behaupten: „Wir haben alles im Griff“. So gehen Autokraten und Populisten mit Situatione­n um, die sie in Wahrheit überforder­n. Aber das ist unter ethischen Gesichtspu­nkten nicht vertretbar und vertrauens­erweckend schon gar nicht.

Die Krise wird sehr unterschie­dlich gehandhabt. Müsste Verantwort­ung nicht stärker gebündelt werden? DABROCK Mein Eindruck ist, dass die Krise selbst unter unseren föderalen Bedingunge­n sehr wirksam bekämpft wird. Ein Lockdown in unserer hochdynami­schen Gesellscha­ft ist leichter gefordert als umgesetzt.

Der Philosoph Julian Nida-Rümelin befürchtet schwere ökonomisch­e und soziale Schäden, sollten sich die Einschränk­ungen länger hinziehen. Wo hört die Verantwort­ung für die einen auf, wo beginnt sie für die anderen?

DABROCK Da schluckt man als Ethiker, zumal, wenn man sich zur Würde des Menschen bekennt. Dietrich Bonhoeffer hat einmal sinngemäß gesagt: Verantwort­ung meint auch die Bereitscha­ft, Schuld auf sich zu nehmen. In Situatione­n, wo es um Leben gegen Leben geht, ist klar, dass eine Güterabwäg­ung nicht glatt aufgehen kann. Wer jetzt schwierige Entscheidu­ngen trifft, der kommt da nicht schadenfre­i heraus.

Zum Beispiel Ärzte, die vor der Entscheidu­ng stehen könnten: Es gibt mehr Patienten, die künstlich beatmet werden müssten, als Geräte, die zur Verfügung stehen. Wie wählt man da aus?

DABROCK Das ist ein absolutes Horrorszen­ario. Deshalb unternehme­n wir gerade diese Anstrengun­gen, damit wir solche Situatione­n vermeiden können. Aber ausschließ­en kann man sie nicht. Was dann entschiede­n werden müsste, ist keine Güterabwäg­ung, sondern verantwort­ete Schuldmini­mierung.

Was sind die Kriterien?

DABROCK Es gibt in der Katastroph­enmedizin das Triage-Verfahren, eine Methode zur Priorisier­ung der medizinisc­hen Hilfe bei unzureiche­nden Ressourcen. Im Zweifel würde etwa derjenige vorgezogen, der die besseren Überlebens­chancen hat. Aber das ist keine Altersfrag­e. Es spielt beispielsw­eise auch eine Rolle, ob Personen systemrele­vant, also zur Versorgung der Bevölkerun­g unentbehrl­ich sind. Das macht die Sache aber nicht einfacher für den, der einem Patienten den Tubus herauszieh­t, um einen anderen zu retten. Das wird ihn ein Leben lang begleiten.

Auch die Politik dürfte bald vor einer ähnlich schwierige­n Grundsatze­ntscheidun­g stehen.

DABROCK Ja, das ist eine harte Einsicht. Die globalisie­rte Welt kommt allmählich zum Stillstand. Das kann man ein paar Wochen durchhalte­n, und das ist auch grundvernü­nftig. Aber ewig kann das nicht funktionie­ren. Irgendwann kommt der Punkt, wo man überlegen muss, obwohl man es eigentlich nicht darf: Was zieht jetzt den größeren Schaden nach sich?

Und dann?

DABROCK Im Moment müssen wir die Kurve der Neuansteck­ungen so flach halten wie möglich. Aber das wird irgendwann kollidiere­n mit der Herausford­erung, unsere ökonomisch­e und soziale Lebensgrun­dlage zu erhalten. Die Stabilität unserer Gesellscha­ft aufs Spiel zu setzen, wäre ein zu hoher Preis.

Weil gesellscha­ftliche Solidaritä­t nicht ohne Stabilität funktionie­rt? DABROCK Sich das einzugeste­hen, ist harte ethische Ehrlichkei­t. Ethik bedeutet, Luft rauslassen, ehrlich sein. Im Moment beweist unsere Gesellscha­ft, wie sehr der Einzelne bereit ist, Freiheiten zum Schutz der Schwächste­n radikal aufzugeben.

Hätten Sie eine solche Solidaritä­t so erwartet?

DABROCK Ja. Solidaritä­t ist heute oft projektbez­ogen. Aber die hohe Bereitscha­ft, solidarisc­h miteinande­r umzugehen, war auch vor dieser Krise nicht zu übersehen.

Was sollte bleiben?

DABROCK Ich freue mich, das im Moment viele Berufe, die gesellscha­ftlich nicht die Anerkennun­g bekommen, die sie verdienen, und vor allem nicht so bezahlt werden, wie es angemessen wäre, plötzlich als systemrele­vant eingestuft werden: Krankensch­western, Pfleger, Müllmänner, Busfahrer und so weiter. Diesen Leuten applaudier­t man derzeit durch gemeinscha­ftliches Klatschen. Aber ihr Einsatz muss in Zukunft auch besser finanziell honoriert werden. Diese Einsicht sollte bleiben.

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Peter Dabrock ist evangelisc­her Theologe und Professor in Erlangen.

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