„Leben gegen Leben ist das Horrorszenario“
Der Vorsitzende des Deutschen Ethikrats äußert sich zu Entscheidungen über Leben und Tod in Zeiten der Corona-Krise.
Die Corona-Krise wirft viele Fragen auf. Welche steht für den Ethiker Peter Dabrock im Vordergrund?
PETER DABROCK Das ethisch ganz große Thema ist die Frage: Was bedeutet Verantwortung? Einerseits gibt es ein klares Plädoyer, die Würde des Einzelnen, seine Selbstbestimmung und sein Leben zu schützen. Auf der anderen Seite müssen wir bedenken, dass die Gesellschaft angesichts der Vielzahl von Betroffenen an die Grenze ihrer Kapazität gelangen könnte.
Viele Politiker sagen, sie hätten das Risiko unterschätzt. Kann man von denen, die Verantwortung tragen, nicht etwas mehr erwarten? DABROCK Ich finde es wichtiger, nach vorne zu schauen. In der Krise geht es um Vertrauen. Für mich aber stärkt es Vertrauen, wenn Politiker auch eingestehen können, mit diesem Ausmaß nicht gerechnet zu haben, andererseits aber deutlich machen: Jetzt versuchen wir alles. Ich finde das besser als Verlautbarungen etwa aus China oder den USA, die behaupten: „Wir haben alles im Griff“. So gehen Autokraten und Populisten mit Situationen um, die sie in Wahrheit überfordern. Aber das ist unter ethischen Gesichtspunkten nicht vertretbar und vertrauenserweckend schon gar nicht.
Die Krise wird sehr unterschiedlich gehandhabt. Müsste Verantwortung nicht stärker gebündelt werden? DABROCK Mein Eindruck ist, dass die Krise selbst unter unseren föderalen Bedingungen sehr wirksam bekämpft wird. Ein Lockdown in unserer hochdynamischen Gesellschaft ist leichter gefordert als umgesetzt.
Der Philosoph Julian Nida-Rümelin befürchtet schwere ökonomische und soziale Schäden, sollten sich die Einschränkungen länger hinziehen. Wo hört die Verantwortung für die einen auf, wo beginnt sie für die anderen?
DABROCK Da schluckt man als Ethiker, zumal, wenn man sich zur Würde des Menschen bekennt. Dietrich Bonhoeffer hat einmal sinngemäß gesagt: Verantwortung meint auch die Bereitschaft, Schuld auf sich zu nehmen. In Situationen, wo es um Leben gegen Leben geht, ist klar, dass eine Güterabwägung nicht glatt aufgehen kann. Wer jetzt schwierige Entscheidungen trifft, der kommt da nicht schadenfrei heraus.
Zum Beispiel Ärzte, die vor der Entscheidung stehen könnten: Es gibt mehr Patienten, die künstlich beatmet werden müssten, als Geräte, die zur Verfügung stehen. Wie wählt man da aus?
DABROCK Das ist ein absolutes Horrorszenario. Deshalb unternehmen wir gerade diese Anstrengungen, damit wir solche Situationen vermeiden können. Aber ausschließen kann man sie nicht. Was dann entschieden werden müsste, ist keine Güterabwägung, sondern verantwortete Schuldminimierung.
Was sind die Kriterien?
DABROCK Es gibt in der Katastrophenmedizin das Triage-Verfahren, eine Methode zur Priorisierung der medizinischen Hilfe bei unzureichenden Ressourcen. Im Zweifel würde etwa derjenige vorgezogen, der die besseren Überlebenschancen hat. Aber das ist keine Altersfrage. Es spielt beispielsweise auch eine Rolle, ob Personen systemrelevant, also zur Versorgung der Bevölkerung unentbehrlich sind. Das macht die Sache aber nicht einfacher für den, der einem Patienten den Tubus herauszieht, um einen anderen zu retten. Das wird ihn ein Leben lang begleiten.
Auch die Politik dürfte bald vor einer ähnlich schwierigen Grundsatzentscheidung stehen.
DABROCK Ja, das ist eine harte Einsicht. Die globalisierte Welt kommt allmählich zum Stillstand. Das kann man ein paar Wochen durchhalten, und das ist auch grundvernünftig. Aber ewig kann das nicht funktionieren. Irgendwann kommt der Punkt, wo man überlegen muss, obwohl man es eigentlich nicht darf: Was zieht jetzt den größeren Schaden nach sich?
Und dann?
DABROCK Im Moment müssen wir die Kurve der Neuansteckungen so flach halten wie möglich. Aber das wird irgendwann kollidieren mit der Herausforderung, unsere ökonomische und soziale Lebensgrundlage zu erhalten. Die Stabilität unserer Gesellschaft aufs Spiel zu setzen, wäre ein zu hoher Preis.
Weil gesellschaftliche Solidarität nicht ohne Stabilität funktioniert? DABROCK Sich das einzugestehen, ist harte ethische Ehrlichkeit. Ethik bedeutet, Luft rauslassen, ehrlich sein. Im Moment beweist unsere Gesellschaft, wie sehr der Einzelne bereit ist, Freiheiten zum Schutz der Schwächsten radikal aufzugeben.
Hätten Sie eine solche Solidarität so erwartet?
DABROCK Ja. Solidarität ist heute oft projektbezogen. Aber die hohe Bereitschaft, solidarisch miteinander umzugehen, war auch vor dieser Krise nicht zu übersehen.
Was sollte bleiben?
DABROCK Ich freue mich, das im Moment viele Berufe, die gesellschaftlich nicht die Anerkennung bekommen, die sie verdienen, und vor allem nicht so bezahlt werden, wie es angemessen wäre, plötzlich als systemrelevant eingestuft werden: Krankenschwestern, Pfleger, Müllmänner, Busfahrer und so weiter. Diesen Leuten applaudiert man derzeit durch gemeinschaftliches Klatschen. Aber ihr Einsatz muss in Zukunft auch besser finanziell honoriert werden. Diese Einsicht sollte bleiben.