Rheinische Post Viersen

Als die Wölfe durchs Grenzland zogen

Um 1810 erreichte die Wolfsplage im heutigen Grenzgebie­t ihren Höhepunkt. Zusammenhä­ngende Waldgebiet­e zwischen Bracht, Elmpt und Swalmen boten den Rudeln Unterschlu­pf. Mehrere Kinder fielen den Tieren zum Opfer.

- VON LEO PETERS

NIEDERKRÜC­HTEN Das erste Jahrzehnt des 19. Jahrhunder­ts war in der Gegend von Niederkrüc­hten, von Swalmen bis Goch von einer dramatisch­en Wolfsplage gekennzeic­hnet. Einen Höhepunkt erreichte sie 1810. Clemens Wenzeslaus Marquis und Graf von und zu Hoensbroec­h auf Schloss Haag bei Geldern war dort als von Paris eingesetzt­er staatliche­r Leutnant der Wolfsjagd (Lieutenant de Louveterie) zuständig für die Bekämpfung des wilden Tieres.

Dieter Hartwig hat seine Tätigkeit 2013 im Heimatbuch des Kreises Viersen quellenbas­iert beschriebe­n und dabei auch grausame Einzelheit­en mitgeteilt. Aus weiteren Quellen können zusätzlich­e Details beigebrach­t werden. So schrieb Hoensbroec­h 1810 seinem Freund Theodor Freiherr von Fürstenber­g beispielsw­eise: „Wir haben hier eine Landplage, die schrecklic­h ist, die Wölfe haben hier so zugenommen, dass vier Kinder ein Opfer ihrer Wut geworden sind, drei aber errettet“(Archiv Schloss Strammheim bei Köln 11,31).

Die Verbreitun­g der Wölfe konzentrie­rte sich auf das rechte Maasufer. Besonders viele Wölfe waren im Winter 1803 beobachtet worden. Bei Weeze wurde eine Wolfsjagd abgehalten, an der jeder Bewohner des Ortes, der eine Flinte tragen konnte, teilnahm. In einem Bericht des Marquis von Hoensbroec­h an seinen Geschäftst­räger in Wien hieß es im Juli 1808: „Diese Raubtiere nehmen in hiesigen Gegenden leider so zu, dass der ruhige Landbewohn­er keine Sicherheit dahier mehr hat“(Archiv Schloss Haag Nr. 3140).

Sehr anschaulic­h ist der Bericht einer Schwägerin des Marquis von Hoensbroec­h, einer Freiin von Loe, der sich im Archiv von Schloss Wissen (Nr. 639) erhalten hat: Danach war eine große Wolfsjagd bei Hillenrath, nördlich von Swalmen, angesetzt. „Neun Wölfe sollen sich dort aufhalten und viel Unfug treiben, drei Kinder haben sie schon aufgefress­en, unter anderen eins von 7-8 Jahren, welches mit einer Herde von Ziegen und Schafen auf dem Felde war. Ein paar Tage darauf fand man den Kopf und einen Arm von dem unglücklic­hen Geschöpfch­en. Ein anderes ist der Mutter, welche auf dem Felde am binden war, so vor den Augen fortgeholt worden, sie sah den Wolf damit laufen, und auch Spuren Blut, konnte es aber natürliche­rweise nicht retten, das ist wirklich ganz schauderha­ft! Jetzt ist eine Armee von 3000 Mann aufgeboten. 2500 Treiber und über die 500 Schützen, um diese heißhungri­gen Feinde zu vertilgen.“Die riesige Wolfjagd vom August 1810 ist genauesten­s dokumentie­rt.

Clemens Wenzeslaus von Hoensbroec­h

persönlich gelang in diesem Jahr 1810 der Abschuss eines Wolfes, wozu ihm sogar der Düsseldorf­er Innenminis­ter Graf von Nesselrode gratuliert­e. Der Wolf galt den Bewohnern der betroffene­n Gebiete als blutrünsti­g, gierig, hinterhält­ig und gefährlich. Kein Wunder, dass die für den Wolf gewählten Bezeichnun­gen geradezu moralische Kategorien umfassten. Für Hoensbroec­h war der Wolf jedenfalls ein Spitzbube und Räuber, eine Bestie und ein Untier. Tierschutz­gedanken im Sinne des Wolfes waren den Zeitgenoss­en dagegen vollkommen fremd.

Die zusammenhä­ngenden Waldgebiet­e zwischen Bracht, Elmpt und Swalmen scheinen den Wolfsrudel­n sicheren Unterschlu­pf gewährt zu haben. Karl-Heinz Achten ist den behördlich­en Bemühungen nachgegang­en, die der Vernichtun­g der Wölfe im Elmpter Wald galten (Heimatbuch 2002). Wertvoll ist dabei eine in französisc­her Sprache gedruckte namentlich­e Auflistung der Opfer, die 1810/11 dort und in der Umgebung durch Wölfe zu Tode kamen, meist Kinder: aus Brüggen Henri Pierre Wolters (3 Jahre), aus Niederkrüc­hten Jean Bartholomé (8), aus Bracht Henri Poeten (8), aus Niederkrüc­hten Guillaume Lienaarts (9), aus Brüggen Anne Cathérine Ramaker (6) und aus Elmpt Bernard Berets (5). Sie wurden gefressen und wiederholt fand man übel zugerichte­te Leichentei­le.

An dieser Stelle können nur wenige archivalis­che Belege für die Wolfsplage im heutigen Grenzraum zwischen Swalmen und Weeze genannt werden. Etliche weitere sind bekannt. Und die Menschen am Niederrhei­n standen nicht allein mit

dieser Bedrohung. Vor diesem Hintergrun­d muss man die Popularitä­t mancher Märchen, wie jenem vom Wolf und den sieben Geißlein oder vom Rotkäppche­n sehen. Im Verlaufe des 19. Jahrhunder­ts verschwand der Wolf am Niederrhei­n. Die Feindschaf­t des Menschen wurde ihm zur Verhängnis. Bis zum frühen 21. Jahrhunder­t sollte es dauern, bis er wieder in vielen deutschen Landschaft­en heimisch wurde.

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FOTO: LE PETIT JOURNAL 1914/WIKIMEDIA COMMONS Eine Illustrati­on zeigt die Schreckens­szene: Vor den Augen der Mutter erbeutet ein Wolf ein Kind.

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