Das Wochenende ist entscheidend
Während die Bundesregierung Samstag und Sonntag abwarten will, verhängen die ersten Länder faktisch Ausgangssperren. Es gibt einen Dissens über das richtige Vorgehen.
BERLIN Es ist brisant, dass Kanzlerin Angela Merkel und die 16 Länderchefs ihre Telefonschaltkonferenz im Streit beenden. Es ist Donnerstagabend, die Zahl der Corona-Infizierten – und auch die der Toten – steigt. Viele Bürger halten sich nicht an die Auflagen von Bund, Ländern und Gemeinden und treffen sich munter in Parks und Cafés. Dagegen gibt es nur noch ein Mittel: Ausgangssperren. Aber die freiheitsliebende Kanzlerin zögert.
Das Thema ist juristisch heikel, die Experten brauchen noch Zeit, auch um die Position des Bundes zu prüfen, dessen Befugnisse im föderalen System nach dem Grundgesetz beschränkt sind. Am Sonntag um 14 Uhr soll es wieder eine Schalte von Merkel und den Ministerpräsidenten geben. Bis dahin, so hofft das Kanzleramt offenbar, könnten die Bürger den letzten Warnschuss verstanden haben und übers Wochenende zeigen, dass sie sich an die Vorgaben halten.
Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) drängt die Amtskollegen aber, schon vor dem Wochenende
die Maßnahmen zu verschärfen. Der Regierungschef aus dem Saarland, Tobias Hans (CDU), der sich auch angesichts der Nähe zum coronabelasteten Frankreich um die Gesundheit seiner Bürger sorgt, pflichtet ihm bei. Die südlichen Bundesländer und NRW sind von besonders vielen Fällen betroffen.
Aber es gibt Widerstand. Nicht alle Regierungschefs wollen so weit gehen. NRW-Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) warnt davor, jeden Tag eine neue Maßnahme in Gang zu setzen. Auch er plädiert dafür, das Wochenende und die Wirkung
der bisherigen Maßnahmen abzuwarten. Merkels Regierungssprecher Steffen Seibert formuliert es am Freitag in der Bundespressekonferenz so: Es werde eine „sehr ernste und schonungslose Analyse“geben, wie sich das öffentliche Bild darstelle. Kanzleramtschef Helge Braun mahnt im „Spiegel“: „Wir werden uns das Verhalten der Bevölkerung an diesem Wochenende anschauen. Der Samstag ist ein entscheidender Tag, den haben wir besonders im Blick.“
Nach den drastischen Einschränkungen vom Wochenanfang, wonach das öffentliche Leben ohnehin schon weitgehend lahmgelegt ist, setzt Merkel immer noch darauf, dass ihre TV-Ansprache die Menschen zur Vernunft bringt, in der sie auch von zu erwartenden Todesopfern sprach. Die drastische Einschränkung der Bewegungsfreiheit ist ihr als Ostdeutscher besonders zuwider. Regierungschefs der neuen Länder sehen es ähnlich. Einige sagen, sie wollten die Menschen nicht einsperren. Auch sozialdemokratische Ministerpräsidenten im Westen stellen die Freiheitsrechte der Bürger in den Vordergrund.
Lediglich Malu Dreyer (SPD) aus
Rheinland-Pfalz kann sich auch mehr Beschränkungen vorstellen. Sie gehört am Freitag mit Söder, Hans, Winfried Kretschmann (Grüne) aus Baden-Württemberg und dem Hessen Volker Bouffier (CDU) zu den Länderchefs, die bei der Verschärfung der Maßnahmen voranschreiten. Sie warten die von Helge Braun gesetzte Frist bis Samstagabend nicht ab. Viele Deutsche sind offensichtlich beim Mülltrennen disziplinierter als im Vermeiden zwischenmenschlicher Kontakte.
Markus Söder ist am Freitag der Erste, der aus der Deckung kommt. Um 12.30 Uhr startet er seine Online-Pressekonferenz. Ähnlich wie Merkel bei ihrer Fernsehansprache schaut er fest in die Kamera. Er findet einen Ton zwischen staatsmännischer Autorität und freundlichem Werben um seine Entscheidung. Die Bayern dürfen in wenigen Stunden nur noch das Haus verlassen, wenn sie zur Arbeit fahren, einen Arztbesuch oder Einkäufe erledigen müssen. Spaziergänge oder Sport an der frischen Luft sind nur alleine oder mit den Menschen gestattet, mit denen man ohnehin unter einem Dach wohnt.
Während Söder spricht, zeigt sich NRW-Ministerpräsident Laschet im Radiosender WDR 2 noch skeptisch, ob eine Ausgangssperre wegen des Coronavirus bereits notwendig sei. Der Staat müsse sorgsam abwägen, wenn er Grundrechte einschränke. Wolle man eine große Ausgangssperre
verhindern, müsse man andere Bereiche womöglich weiter herunterfahren, sagte er und verweist auf Friseurgeschäfte und Baumärkte, die noch geöffnet sind.
Seibert wird von Söders Entscheidung in der Bundespressekonferenz überrascht und sagt, das zeige sicherlich, dass die für Sonntagabend geplante Koordination von Bund und Ländern „besonders wichtig“sei. Das Bundesinnenministerium sagt, alle Anordnungen müssten den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachten. Das heißt nach Expertenangaben: Wenn eine Ausgangssperre nicht das letzte, alternativlose Mittel ist, ist sie verfassungswidrig. Und um diese Verhältnismäßigkeit zu beweisen, müssten die Zahlen der Infizierten und Toten weiter steigen. Dann wäre bewiesen, dass alle anderen Vorgaben noch nicht geholfen haben. Nach Ansicht der Gegner der Ausgangssperre müssten deshalb bis zur Entscheidung noch einige Tage verstreichen.