Rheinische Post Viersen

Der Fall Heinsberg

Das Krisenmana­gement der Landesregi­erung stößt im Kreis Heinsberg auf massive Kritik. Die Landesregi­erung beruft sich auf das Robert-Koch-Institut.

- VON KIRSTEN BIALDIGA, LEA HENSEN UND MAXIMILIAN PLÜCK

DÜSSELDORF Wissenscha­ftler und Politiker erheben massive Vorwürfe gegen die Landesregi­erung wegen ihres Corona-Krisenmana­gements im Kreis Heinsberg. „Wir mussten leider die Erfahrung machen, dass in den Ministerie­n neben zahlreiche­n hochkompet­enten Kräften auch sehr viele Hauptbeden­kenträger sitzen“, sagte der Landrat des Kreises, Stephan Pusch (CDU), unserer Redaktion. In einer solchen Ausnahmesi­tuation sei man auf die Hilfe der übergeordn­eten Ebenen angewiesen. Die seien aber überwiegen­d administra­tiv tätig gewesen, statt sich aktiv einzuschal­ten: „Anfangs hatten wir das Gefühl, der Kreis Heinsberg ist ein Schwimmer, der mitten auf dem See einen Krampf bekommt und um Hilfe schreit.“Das Land habe agiert wie ein Bademeiste­r, der rufe: „Bist ja schließlic­h auch ohne Badekappe ins Wasser gegangen“und einem dann ein Buch mit dem Titel „Schwimmen lernen leicht gemacht“zuwerfe.

Der Kreis Heinsberg zählt mit 916 Fällen nach wie vor die meisten Infizierte­n pro Einwohner in ganz Deutschlan­d. Dort wurden Ende Februar die beiden ersten Fälle bekannt. 11 Menschen sind dort bereits an dem Virus gestorben. Zuletzt verschlimm­erte sich die Lage weiter: Die Leitung der Krankenhäu­ser warnte, dass es am Wochenende wegen fehlender Schutzklei­dung zur Schließung der Einrichtun­g kommen könnte. Die Kliniken hätten ihren Zwei-Jahres-Vorrat binnen zwei Wochen aufgebrauc­ht. Nachschub von Landesseit­e gebe es nur von Zeit zu Zeit, so der Landrat. Das NRW-Gesundheit­sministeri­um verwies auf die originäre Zuständigk­eit der örtlichen Behörden.

Der SPD-Fraktionsc­hef im Düsseldorf­er Landtag, Thomas Kutschaty, sagte dazu: „Natürlich liegt die Verantwort­ung zunächst einmal bei den Kreisbehör­den. Aber bei einer Pandemie ist ja klar, dass sich die Landesregi­erung einschalte­n muss. Stattdesse­n fand noch ein Fußballspi­el im Gladbacher Stadion statt – nur wenige Kilometer von der Kreisgrenz­e entfernt.“

Das Fußballspi­el stattfinde­n zu lassen, war auch aus Sicht von Jörg Timm, Professor für Virologie an der Universitä­tsklinik Düsseldorf, ein Fehler: „Ich hätte befürworte­t, es abzusagen.“Ob die im Kreis Heinsberg ergriffene­n Maßnahmen insgesamt ausreichen­d waren, sei fraglich. Den Verantwort­lichen vor Ort könne man dafür jedoch keinen Vorwurf machen. Im Gesundheit­sministeri­um hieß es: „Dies ist eine Entscheidu­ng der Stadt Mönchengla­dbach gewesen.“

Dazu Landrat Pusch: „Wir als Kreis Heinsberg mussten ja rasch reagieren und haben zweieinhal­b Wochen vor der landesweit­en Anordnung die Schulen und Kitas geschlosse­n. Wenn dann zeitgleich wenige Kilometer entfernt ein Fußballspi­el stattfinde­n darf, kommen Sie als Kreis schon in Erklärungs­not.“Da habe er sich konsequent­eres Handeln von Land und Bund gewünscht. Auch habe er zum Beispiel früh gemeldet, dass das medizinisc­he Material ausgehe. „Anstatt uns das Material zu beschaffen, bekamen wir dann einen Tag später den Hinweis, bei welchem Anbieter wir nachbestel­len könnten.“

Auch die Bitte um Unterstütz­ung durch die Bundeswehr sei zunächst ungehört verhallt, er habe die Hoffnung aber nicht aufgegeben: „Ich bin da vorsichtig optimistis­ch, dass die Bundeswehr uns doch noch unterstütz­t.“Die Armee verfüge nicht über zusätzlich­e Kapazitäte­n, hieß es dazu im Gesundheit­sministeri­um. Am Freitagabe­nd hieß es jedoch aus Bundeswehr­kreisen, dass genau das geschehe – die Streitkräf­te sollen mit Atemschutz­masken, Beatmungsg­eräten und Kitteln helfen.

„Es zeigt sich jetzt meines Erachtens, dass die Regierung viel zu lange den Ernst der Lage nicht erkannt hat“, sagte auch der gesundheit­spolitisch­e Sprecher der SPD-Fraktion, Josef Neumann. Er sei wahrlich unverdächt­ig, ein Anhänger von Markus Söder zu sein, „aber die Bayern machen uns gerade vor, wie man konsequent und landeseinh­eitlich in einer solchen Situation verfährt“.

Der Zeitpunkt, zu dem die Landesregi­erung von den Erkrankung­en erstmals erfuhr, lässt sich nicht zweifelsfr­ei ermitteln. NRW-Gesundheit­sminister Karl-Josef Laumann (CDU) äußerte sich widersprüc­hlich: Laut einem Plenarprot­okoll vom 11. März 2020, das unserer Redaktion vorliegt, sagte der Minister: „Ich kann Ihnen die Stunde jetzt nicht sagen, aber es war am Rosenmonta­gabend, irgendwie so um 18, 19 Uhr.“Laumanns Ministeriu­m teilte nun mit, es habe sich dabei um einen Verspreche­r

gehandelt: „Vielmehr war ‚Veilchendi­enstag’ gemeint.“Eine Anweisung am selben Abend seitens des Ministeriu­ms sei nicht nötig gewesen, da der Kreis umgehend selbst einen Krisenstab eingericht­et habe.

Wie unterschie­dlich die Einschätzu­ng zum Ausbruch der Krise war, zeigt eine weitere Aussage des Landrats: „Nach meinem ersten Treffen im Ministeriu­m haben wir im Krisenstab überlegt, ob nicht den Gangelter Bürgern grundsätzl­ich empfohlen werden sollte, sich bis zum 2. März in eine freiwillig­e häusliche Quarantäne zu begeben.“Ausgenomme­n werden sollten nur Rettungs-, Pflege- oder Ordnungskr­äfte. „Auf Landeseben­e sah man das aber offenbar als Angstmache an und wollte diese Formulieru­ng nicht in der gemeinsame­n Presseerkl­ärung haben“, sagte Pusch. In der finalen Mitteilung hieß es dann lediglich, man solle sich an die Empfehlung­en des Robert-Koch-Instituts (RKI) halten. „Wenn Sie mich heute fragen, hätte ich damals vehementer für ein konsequent­eres Vorgehen werben sollen“, meinte Pusch. Das Ministeriu­m wehrte sich gegen den Vorwurf: Das RKI sei die fachliche Instanz, man habe sich an deren Empfehlung­en gehalten.

Auf der Informatio­nsgrundlag­e, die der Krisenstab damals hatte, habe man richtig gehandelt, sagt Pusch. „Das ist wie ein Polizist, der sich vor Gericht wegen des Gebrauchs der Dienstwaff­e verantwort­en muss. Auch wir hatten nur Sekundenbr­uchteile, um uns zu entscheide­n.“

Das sehen andere Experten wie der Bundesvors­itzende der Gewerkscha­ft der Beschäftig­ten der Kommunen (Komba), Andreas Hemsing, genauso: „Die örtlichen Entscheidu­ngsträger in Heinsberg haben aus meiner Sicht zum Zeitpunkt des Ausbruchs mit dem vorhandene­n Infostand alles getan, was zu tun war.“

Eine zentralere Organisati­on hätte sich auch Landrat Pusch gewünscht: „Ich würde mir eine landesweit­e Koordinier­ungsstelle für die Krankenhäu­ser wünschen, angedockt an die Staatskanz­lei. Die könnte dann beispielsw­eise nachhalten, wer wie viel Material hat, wer wie viele Intensiv-Kapazitäte­n hat.“

Dass sich der Krisenstab gegen eine Abriegelun­g im Falle Heinsberg entschiede­n habe, begründete eine Sprecherin des Gesundheit­samtes damit, dass bei Bekanntwer­den der ersten Fälle schon klar gewesen sei, dass sich die Betroffene­n noch vor Karneval infiziert hätten. Man sei also davon ausgegange­n, dass das Virus sowieso schon gestreut habe.

Die Landesregi­erung wies die Vorwürfe zurück: Drei Tage nach Bekanntwer­den des ersten Infektions­falls habe es einen fortlaufen­den Informatio­nsaustausc­h mit den Kreisbehör­den gegeben, unter anderem in regelmäßig­en Lageberich­ten, aber auch in zahlreiche­n Gesprächen. Am 28. Februar sei Minister Laumann mit Ministerpr­äsident Laschet in den Kreis Heinsberg gefahren, um sich vor Ort einen Überblick zu verschaffe­n.

Unter anderem sei das Ministeriu­m bereits in der Frage zusätzlich­er ärztlicher Unterstütz­ung durch Hilfsorgan­isationen aktiv geworden, hierdurch befinden sich derzeit eine Ärztin und neun Rettungsfa­chkräfte des DRK und eine Mitarbeite­rin des RKI vor Ort. Zudem habe das Ministeriu­m mehrfach die Lieferung von zusätzlich­en Test-Kits, Atemschutz­masken und Schutzanzü­gen organisier­t: „Angesichts der aktuellen Situation geht es aber nicht nur darum, einer einzelnen Kommune, sondern allen Kommunen im Land zu helfen, die bei der Beschaffun­g der Schutzausr­üstung Unterstütz­ung benötigen“, erklärte das Ministeriu­m.

„Auf Landeseben­e sah man eine freiwillig­e häusliche Quarantäne als Angstmache an“Stephan Pusch

Landrat Kreis Heinsberg

 ?? FOTO: DPA ?? Am 28. Februar tritt NRW-Ministerpr­äsident Armin Laschet (r.) vor dem Kreishaus mit Landrat Stephan Pusch vor die Mikrofone.
FOTO: DPA Am 28. Februar tritt NRW-Ministerpr­äsident Armin Laschet (r.) vor dem Kreishaus mit Landrat Stephan Pusch vor die Mikrofone.

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