Rheinische Post Viersen

Miles Davis zum Hören und Anschauen

- VON PHILIPP HOLSTEIN

Damals verachtete ich den Jazz. Der Jazz klingelte samstags, immer am frühen Nachmittag, dann kamen Freunde meines Vaters zu uns, und sie hatten ihre Instrument­e dabei, Klarinette, Oboe, Saxofon. Mein Vater war Musiker, er hatte für James Last gespielt, und seine Kumpels waren auch Musiker oder doch zumindest Leute, die regelmäßig Musik machten. Sie sagten „Moin“und gingen ins Wohnzimmer. Dort spielten sie, und was sie spielten, war Jazz, und Jazz war verdammt laut.

Ich verstand den Jazz nicht, ich hörte nur die Instrument­e, deren Töne keine Einheit ergaben, sondern gegeneinan­der antraten; unser Wohnzimmer war die Arena, der Boxring. Ein Instrument schien das andere überrumpel­n, übertrumpf­en zu wollen. Jedes Instrument schrie vor Schmerz, jeder Kampf ging über zehn Runden. Jazz war nichts für mich, zu anstrengen­d, ich wollte Pop.

An diesen Samstagen saß ich oft mit meiner Mutter in der Küche. Wir tranken Kaffee, während der Jazz von schweren Teppichen und zwei Türen gebrochen bei uns anbrandete. Wie verschwore­n uns gegen den Jazz. Wir sagten Wörter wie: „Synkopenpo­rno“. „Lärmdiktat­ur“. „Blasebalge­rei“. Dazu aßen wir „Ohne Gleichen“-Kekse oder friesische­n Butterkuch­en. Sich gegen den Jazz zu verschwöre­n war eigentlich sehr schön. Aber das hätten wir niemals zugegeben. Wir sagten „Ogottogott“und „Uff“. Es wurde viel gestöhnt in unserer Küche. Seufzerküc­he. Die Küche war die Schallschu­tzkammer unserer Wohnung. Sie wurde erst geöffnet, als mein Vater den Kopf hereinstec­kte und fragte: „Haben wir eigentlich noch Cognac?“Es war dieselbe Küche, in der ich später die Schönheit von „Kind Of Blue“erkennen würde.

Viele Jahre später war das. An einem Freitagabe­nd. Ich war nach einer langen Autofahrt zu Hause angekommen. Mit dem Kopf war ich noch woanders, in meinem Gehirn war eher Montagmorg­en: Arbeit, Stau, Alltagsver­heerungen. Mein Vater saß in der Küche und hörte Musik, den Ton gab eine Trompete an. Mein Vater spielte schon lange nicht mehr selbst, die Küche war nun sein Wohnzimmer, er hatte die Seite gewechselt. „Willst Du ein Bier?“, fragte mein Vater, und so saßen wir da und tranken Bier, denn gemeinsam ein Bier zu trinken, bedeutet in Vechta mehr als bloß der Dehydrieru­ng des Körpers entgegenzu­wirken. Wer gemeinsam ein Bier trinkt, also so richtig gemeinsam im Sinne von zusammen und miteinande­r und ohne viel zu reden, sondern einfach bloß, um ein bisschen umeinander zu sein, der verbündet sich gegen den Fluss der Zeit. Wir tranken ein Bier und hörten „Kind Of Blue“von Miles Davis.

Unsere Küche war warm, sie war unerträgli­ch warm, mein Vater drehte die Heizung am liebsten auf 5, und er saß dann in Strickjack­e da und rauchte, er rauchte, bis jedes Atom Sauerstoff erledigt war, er rauchte viel, und zwar HB. Die Küche war schlecht beleuchtet, „Funzellich­t“, schimpfte mein Vater oft, aber weil wir stets viel klagten, aber selten etwas gegen den jeweiligen Grund zur Klage unternahme­n, blieb die Küche über Jahre schummerig. Das Licht war gelb, hell-orange, um genau zu sein. Es ließ Konturen verschwimm­en, alles wirkte milder in unserer Küche, man sah nicht klar, und nach einer halben Schachtel HB sah man eigentlich gar nichts mehr. Vielleicht gibt es keinen besseren Ort, als das Stück „Blue in Green“zu hören.

Bill Evans rollt in „Blue In Green“einen Teppich aus, auf dem du in die Nacht gehst, und Miles bläst nicht, sondern schmeichel­t. Wer das hört, fühlt sich, als sitze er in Tokio in einer Bar im hundertste­n Stock eines Wolkenkrat­zers, und unter ihm wuselt die in Dunkelheit getauchte Stadt, die mehr Einwohner als Menschen hat. Nichts kann dir etwas anhaben, wenn Du „Blue In Green“hörst, in „Blue In Green“bist du sicher und geborgen, das ist die menschenfr­eundlichst­e Musik, die ich mir nur vorstellen kann. Was das denn sei, das wir da hörten, fragte ich. „Miles“, antwortete mein Vater. Es verging einige Zeit, dann sagte er: „Dolle Musik.“Ich entgegnete: „Ja.“

Nach und nach hörte ich alles von Miles, alles, was mir in die Finger kam zumindest, denn niemand kann ja alles von Miles hören, leider. Er wurde zu einem meiner Helden, „In A Silent Way“und „On The Corner“würde ich auf die einsame Insel mitnehmen, und das fast 30 Minuten lange „He Loved Him Madly“ist eins der schönsten Stücke, die je gespielt wurden. „Vote Miles“steht auf dem Cover von „On The Corner“. Meine Stimme hat er.

Wir hörten über die Jahre noch ein paar Mal „Kind Of Blue“in unserer Küche, mein Vater und ich. Wir kamen ins Reden über Miles und den Jazz, und bei jeder neuen Session war ich besser informiert, hatte mehr gehört und mehr zu besprechen. Einmal brachte ich meinem Vater „A Love Supreme“von John Coltrane mit, damit wir es an meinem Ankunftsta­g in der Küche hören könnten. Das Album war neu aufgelegt worden, mit Demos, Outtakes und solchem Schnicksch­nack. Genau richtig für die Plattenküc­he, dachte ich. Wir hörten, aber ich spürte bald, das war es nicht, das war nicht der Ort für „A Love Supreme“, nicht die Gelegenhei­t. „Coltrane hat den Jazz kaputt gemacht“, murmelte mein Vater, als er die CD herausnahm und wieder „Kind Of Blue“einlegte. „Aber das würde ja heißen, dass die Geschichte des Jazz 1959 beendet gewesen ist“, sagte ich. Mein Vater sagte: „Ja.“

Wir hörten „Blue in Green“und tranken ein Bier, und ich fragte mich, ob ich den Jazz je würde begreifen können. Mein Vater nickte sacht im Takt der Musik und rauchte. Ich schwitzte stark und hörte das Piano und die Trompete, und was ich wusste, war, dass es für diesen Moment keine passendere Musik gab als diese. Funzellich­t, Tokio, HB.

Vielleicht kann man den Jazz gar nicht verstehen, dachte ich. Nur fühlen.

Box Großartig ist die Box „The Final Tour“, die mehrere gemeinsame Konzerte von Miles Davis und John Coltrane im Jahr 1960 dokumentie­rt. Über eine Distanz von vier CDs kann man den beiden größten Musikern des Genres zuhören. („Bootleg Series Vol. 6“, Sony)

Konzerte Bei Youtube kann man Tage verbringen und findet doch immer noch weitere tolle Live-Aufnahmen von Miles Davis. Die ersten beiden, die man sehen sollte, sind diese: 1. „Stadthalle Vienna 1973“(69 Min.). In Minute elf schaut Miles so gefährlich in die Kamera, dass das Bild kurz ausfällt. 2. „Paris 1969“(65 Min.). Chick Corea und Jack DeJohnette sitzen schon da, als Miles auf die Bühne kommt. Er wirkt wie ein Boxer, der sich warm macht. Und dann richtet er die Trompete zum Himmel und bläst die Wolken weg.

Doku Zum Jubiläum von „Kind Of Blue“hat Sony eine kleine Doku ins Netz gestellt. Man findet sie, wenn man „Miles Davis Kind Anniversar­y“bei Youtube eingibt. Leute wie Herbie Hancock und Ron Carter erzählen, warum diese Platte der Gral ist. Sie haben alle recht.

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