Rheinische Post Viersen

Szenarien einer Krise

Gegen die Coronaviru­s-Pandemie helfen im Moment nur drastische Maßnahmen. Da sind sich Politik und britische sowie deutsche Forscher einig. In einer Studie wurden strenge Regeln über viele Monate hinweg simuliert.

- VON PHILIPP JACOBS

DÜSSELDORF Wenn sich eine Mannschaft im Fußball den Ball locker in den eigenen Reihen hin und her passt, nur noch wenige Minuten zu spielen sind und das Team auch noch führt, hörte man bis vor ein paar Tagen noch von den Rängen: Zeitspiel! Denn das Ziel ist es, Zeit zu schinden, um den Sieg davonzutra­gen. Deutschlan­d betreibt gerade Zeitspiel. Im Kampf gegen das Coronaviru­s fährt die Bundesrepu­blik wie andere EU-Staaten die Systeme herunter. So erhofft man sich, Zeit zu gewinnen, Zeit, die es braucht, bis ein Impfstoff oder ein Medikament gegen den Erreger entwickelt und verfügbar ist.

Doch in welcher Konzentrat­ion sind die Eindämmung­smaßnahmen am wirkungsvo­llsten? Darüber rätselt auch die Wissenscha­ft. Forscher um den Modelliere­r Neil Ferguson vom Imperial College in London haben nun versucht, diese Frage mithilfe einer Modellrech­nung zu beantworte­n. Die Wissenscha­ftler analysiert­en den Einfluss von fünf verschiede­nen Maßnahmen in unterschie­dlichen Szenarien für das Vereinigte Königreich und die USA. Dafür legten die Forscher gewisse Annahmen zugrunde, die, das sei direkt klargestel­lt, nicht eins zu eins auf Deutschlan­d oder andere Regionen übertragba­r sind. So ging man beispielsw­eise von einer mittleren Inkubation­szeit von 5,1 Tagen aus, die Infektions­sterblichk­eitsrate setzte man bei 0,9 Prozent an, die Zahl der Menschen, die ins Krankenhau­s müssen, schätzte man auf 4,4 Prozent, wovon wiederum 30 Prozent auf die Intensivst­ation müssen. Die zugrundeli­egenden Annahmen basieren hauptsächl­ich auf Daten aus China, auch Erfahrunge­n aus Italien flossen mit ein.

Die Forscher unterschei­den zwischen zwei Zielen: Die Ausbreitun­g des Virus vollständi­g zu unterbinde­n („supression“) und dem Eindämmen („mitigation“), was mittlerwei­le unter dem Ausdruck „flatten the curve“bekannt ist. Die fünf nicht-pharmakolo­gischen Maßnahmen gegen das Virus waren in der Modellrech­nung: Isolation eines Infizierte­n für sieben Tage in seinem Zuhause, freiwillig­e Quarantäne aller im Haushalt eines Infizierte­n lebenden Personen für 14 Tage, soziale Distanzier­ung der über 70-Jährigen, soziale Distanzier­ung der gesamten Bevölkerun­g sowie Schließung der Schulen und Universitä­ten.

Die Autoren der Studie empfehlen die Strategie der vollständi­gen Unterdrück­ung mittels der fünf Maßnahmen. Weite Teile davon hat Deutschlan­d bereits umgesetzt. Die Wirkung von Ausgangsbe­schränkung­en oder Geschäftss­chließunge­n, wie sie am Sonntag beschlosse­n wurden, wurde nicht genau untersucht. Insgesamt sind die Maßnahmen in der Modellrech­nung der Forscher fünf Monate in Kraft. Eine herbe Prognose für jeden Einzelnen.

Sollte nach diesen fünf Monaten jedoch kein Impfstoff gefunden sein – und danach sieht es aus – machen die Forscher eine ernüchtern­de Bemerkung: Nach dem Lockern der Maßnahmen würden die Fallzahlen wieder drastisch steigen. In allen Szenarien würde das Gesundheit­ssystem stark belastet. Die Wissenscha­ftler schlagen daher ein an die Fallzahlen angepasste­s Ein- und Ausschalte­n der Maßnahmen vor. Mithilfe der Eindämmung­en würde man also die Fallzahlen auf ein niedriges Niveau bringen, dann würde man sie wieder lockern. Sobald die Zahlen wieder ein bestimmtes Niveau übersteige­n, würden die Regeln wieder in Kraft gesetzt. Das sollte man im Idealfall so lange machen, bis ein Impfstoff zur Verfügung steht. Das wird nach jetzigem Stand nicht vor 2021 der Fall sein.

Die Studie ist die bisher umfassends­te zu dem Thema. Viele Parameter lassen sich aber nicht auf das deutsche Gesundheit­ssystem projiziere­n. So gibt es in Deutschlan­d beispielsw­eise deutlich mehr Intensivbe­tten pro 100.000 Einwohner als im Vereinigte­n Königreich – dort sind es acht, hierzuland­e sind es 30. Obwohl sich einige „steile Annahmen“in der Modellieru­ngsstudie befänden, hält der Berliner Virologe Christian Drosten sie im Kern für auf Deutschlan­d übertragba­r.

Auch die Deutsche Gesellscha­ft für Epidemiolo­gie kommt in einer aktuellen Stellungna­hme zu ähnlichen Ergebnisse­n. Sie weist aber darauf hin, dass aufgrund des aktuell noch eingeschrä­nkten Wissens zum Verhalten von Sars-CoV-2 noch zahlreiche Unsicherhe­iten existieren. Ein wichtiger Parameter zur Modellieru­ng sei die sogenannte Basisrepro­duktionsza­hl (R0), heißt es. Diese gibt an, wie viele Personen von einer infizierte­n Person im Durchschni­tt angesteckt werden, wenn keine Infektions­kontrollma­ßnahmen durchgefüh­rt werden und keine Immunität in der Bevölkerun­g vorliegt. Für das neue Coronaviru­s wird R0 auf zwei bis drei geschätzt. Würde man sich nun „ein Szenario vorstellen, in dem keine Kontrollma­ßnahmen durchgefüh­rt werden und keine spontanen Verhaltens­änderungen stattfinde­n, würden sich unter der Annahme, dass alle Personen nach einer Infektion einen Immunschut­z ausbilden im Verlauf des Ausbruchs etwa 50 bis 70 Prozent der Bevölkerun­g, anfangs mit exponentie­ll steigender Geschwindi­gkeit, infizieren“, heißt es. Der Höhepunkt der Epidemie läge dann in diesem Sommer.

Die deutschen Epidemiolo­gen weisen darauf hin, dass auch mäßig verlangsam­te Verläufe der Infektions­ausbreitun­g zu einem Infarkt des Gesundheit­ssystems führen würden. Erst eine Senkung der Reprodukti­onszahl in den Bereich von 1 bis 1,2 würde das Gesundheit­ssystem nicht zu stark belasten. Die dafür notwendige­n Maßnahmen müssten aber so schnell wie möglich erfolgen und über „die nächsten Monate“aufrecht erhalten werden.

Aktuell liege ein kurzes Zeitfenste­r vor, in dem die Entscheidu­ng zwischen Eindämmung und Verlangsam­ung der Infektions­ausbreitun­g noch ohne Überlastun­g des Gesundheit­ssystems erfolgen könne.

Der wichtigste Satz steht aber ganz am Ende des Dokuments: „Da es derzeit keine kausale Therapie oder präventive Impfung gibt, ist es in der aktuellen epidemiolo­gischen Situation wichtig, die Bevölkerun­g zu überzeugen, freiwillig und konsequent zur Einschränk­ung der Übertragun­g beizutrage­n.“

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