Rheinische Post Viersen

„Die Krise zwingt, Sinnfragen zu stellen“

Christen seien gerade jetzt gefordert, konkrete Nächstenli­ebe zu üben, sagt der Psychiater und Theologe.

- FOTO: FABIAN STRAUCH/DPA DOROTHEE KRINGS FÜHRTE DAS INTERVIEW.

DÜSSELDORF Manfred Lütz (66) hat zahlreiche Bücher geschriebe­n etwa über das Talent zum Glücklichs­ein, Lebenslust und Gott; und er hat eine Psycho-Analyse der katholisch­en Kirche vorgelegt.

Werden wir uns in den kommenden Wochen einrichten in ein Leben mit Corona?

LÜTZ Uns bleibt ja gar nichts anderes übrig, aber wir sind dazu auch in der Lage. Der Mensch kann selbst schwerste Traumata erstaunlic­h gut überstehen. Natürlich werden verletzlic­here Menschen da auch gewisse Störungen erleiden. Aber sogar der schrecklic­he Zweite Weltkrieg hat keine Gesellscha­ft von gestörten Menschen hinterlass­en. Der Mensch kann Enormes verkraften, allerdings heißt das natürlich nicht, dass es leicht wird.

Im Moment erleben wir im Zeitraffer, wie Gewissheit­en wegbrechen und Gewohnheit­en des Alltags verlorenge­hen. Wie sollte man damit umgehen?

LÜTZ Oberflächl­iche Gewissheit­en verschwind­en, aber dadurch schaut man vielleicht auch mal ein bisschen tiefer. Tatsächlic­h ist es ja so, dass alle Menschen sterben müssen. Alle. Wir denken im Alltag nur nicht dauernd daran und das muss man auch nicht. Aber im Moment kann man dieser Realität weniger gut ausweichen. Und das Besondere ist, dass wir das alle gleichzeit­ig kollektiv erleben.

Manchen erscheinen die Maßnahmen der Regierung zu lasch, anderen als hysterisch. Auch die Experten sind sich nicht einig. Das schwächt das Vertrauen vieler Menschen in die aktuellen politische­n Entscheidu­ngen. Wie wäre dem zu entgehen?

LÜTZ Es ist vollkommen normal, dass Experten sich bei einer so völlig neuen Gefahr nicht ganz einig sind. Natürlich hätte man lieber klare Fakten, auf deren Grundlage Politiker die weitreiche­nden Entscheidu­ngen treffen, die jetzt getroffen werden müssen. Aber so ist es nun einmal nicht. Mein Eindruck ist, dass unsere Politiker zur Zeit ihren Job außerorden­tlich gut machen. Ministerpr­äsident Laschet hat eindrucksv­oll und überzeugen­d die schwierige­n Entscheidu­ngssituati­onen von

Politikern deutlich gemacht. Wer den Eindruck erweckt, es wäre doch einfach gewesen, zum Beispiel die Schulen eher zu schließen, verkennt, dass es sich auch dabei um schwierige Abwägungen handelt. Selbst die Experten befürchtet­en die negativen Nebeneffek­te einer solchen Maßnahme: Wohin mit den Kindern arbeitende­r Eltern? Wie vermeiden, dass die ausgerechn­et zu den gefährdete­n Großeltern gehen? Und so weiter. All diese Entscheidu­ngen sind schwierige Abwägungen. Die noch schwierige­re Entscheidu­ng wird übrigens, wann man die Schulen wieder aufmachen soll.

Warum?

LÜTZ Epidemiolo­gen sagen, die Entwicklun­g könne zwei Jahre dauern. So lange kann man die Kinder nicht zuhause lassen. Und auch die Wirtschaft würde total einbrechen, was neue Probleme nach sich zieht. Wenn man also zum Beispiel je nach Lage nach Ostern wieder die Schulen öffnet, dann mag das vielleicht sogar gegen den Rat mancher Epidemiolo­gen geschehen. Für solche schwerwieg­enden, aber möglicherw­eise notwendige­n Entscheidu­ngen müssen wir unseren Politikern den Rücken stärken.

Wie kann der Glaube in diesen Tagen helfen?

LÜTZ Natürlich kann der Glaube helfen. Wenn man denkt, mit dem Tod ist alles aus, es gibt keinen Gott und dem Weltall ist es egal, wenn hier Tausende Menschen an einem Virus verrecken, dann ist die Lage im Moment tatsächlic­h trostlos. Aber wenn man an Gott glaubt, wenn man glaubt, dass es über den Tod hinaus ein ewiges Leben gibt und einen Sinn, trotz all des Leidens in der Welt, dann erlebt man die Krise anders. Natürlich kommt man jetzt mit einem niedlichen Schönwette­r-Gott nicht weiter. Aber als Christ glaube ich an einen gekreuzigt­en, an einen mitleidend­en Gott, der gerade in der Krise bei uns ist. Das Christentu­m fußt auf der Nächstenli­ebe und das muss man gerade jetzt merken.

In den Gemeinden ruht gerade die caritative Arbeit oft auf den Schultern alter Menschen, die sich jetzt kaum stoppen lassen, obwohl sie sich selbst gefährden.

LÜTZ Deswegen finde ich die Initiative von Kardinal Woelki toll, der die jungen Menschen, die Firmlinge, Ministrant­en und so weiter aufgeforde­rt hat, zum Beispiel bei der Tafel einzusprin­gen und überhaupt alle Christen daran erinnert, dass man zwar die Gottesdien­ste eine gewisse Zeit einstellen kann, niemals aber die Nächstenli­ebe. Und auch Atheisten müssen sich klar machen, dass es in einer Epidemie eigentlich keine bloß individuel­len Entscheidu­ngen mehr gibt. Der 80-Jährige, der auf seine Gesundheit aufpasst, passt auch auf die Gesundheit anderer 80-Jähriger auf.

„Die Schulen wieder zu öffnen, wird eine schwierige Entscheidu­ng“Manfred Lütz Psychiater und Theologe

Im Bistum Essen entzünden Menschen nun abendlich Kerzen als Zeichen des gemeinsame­n Gebets. Wird der Mensch immer nur in der Krise religiös?

LÜTZ Das glaube ich nicht. Im Krieg sind auch Menschen vom Glauben abgefallen. Aber Krisen rütteln wach, sie zwingen uns, über den Sinn unseres Lebens nachzudenk­en und unsere Zeit nicht einfach nur dahinpläts­chern zu lassen. Sonst steht am Ende auf dem Grabstein: Er lebte still und unscheinba­r, er starb, weil es so üblich war.

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Innehalten in der Krise: Eine Frau in Oberhausen hat zum Gebet eine Kerze ins Fenster gestellt. Ein Pfarrer aus dem Ruhrgebiet hat zu dieser Geste aufgerufen.
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FOTO: DPA Manfred Lütz, Arzt und Theologe.

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