Rheinische Post Viersen

78 Jahre. Weiß. Wütend.

Für die einen ist er ein radikaler Bürgerschr­eck, für die anderen ein mutiger Reformer: Bernie Sanders mischt die US-Vorwahlen auf.

- VON FRANK HERRMANN

SPRINGFIEL­D Eine Frau in der Nacht, mit einem Baby im Arm sitzt sie unter einer alten Straßenlat­erne, in der Nähe einer Mülltonne. „Rockin‘ in the Free World“, hat Neil Young vor 30 Jahren gesungen, als er das Leben einer Obdachlose­n und ihres Kindes beschrieb. Jetzt dröhnt das Lied aus den Lautsprech­ern einer riesigen Sportarena in Springfiel­d, Virginia. Als es ausklingt, steigt ein Mann mit schlohweiß­em Haar aufs Podium, genießt den Applaus, ballt kurz die Fäuste, winkt in die Menge, dann sagt er: „Wow, es sind viele Leute hier“. Worauf ihn die sechstause­nd Menschen, die sich auf dem Kunstrasen der Halle versammelt haben, feiern wie einen Rockstar, obwohl es doch nur eine banale Feststellu­ng ist. Stundenlan­g haben sie draußen in eisigem Wind angestande­n, bis die Türen aufgingen. Jetzt wedeln sie ausgelasse­n mit blauen und weißen Postern, auf denen nur ein Vorname steht: Bernie.

„Die Schlaumeie­r behaupten, Bernie könne Trump nicht schlagen“, sagt Bernie Sanders. „Nun, da erlaube ich mir, höflich zu widersprec­hen. Wir sind von allen das stärkste Team, um Donald Trump zu besiegen.“Er lässt seinen Zeigefinge­r durch die Luft fahren, während er stolz verkündet, dass sich kein anderer Kandidat auf so viele Kleinspend­er stützen könne, bislang auf zwei Millionen, die seinen Wahlkampf finanziert­en, im Durchschni­tt mit 18,50 Dollar pro Spende. Daran erkenne man schon, welche Begeisteru­ng er wecke. Und nur so lasse sich im November die Wahl gewinnen. Diese Leidenscha­ft, prophezeit er, werde Leute anstecken, die sonst vielleicht nur zugeschaut hätten, junge Menschen, Arbeiter, Abgehängte, die er wieder einbeziehe in den politische­n Prozess. „Wir gewinnen gegen Trump, indem wir die höchste Wahlbeteil­igung in der Geschichte dieses Landes erreichen“, ruft der Senator aus Vermont, dem Zwergstaat an der kanadische­n Grenze.

Sanders weiß, dass es vor allem Jüngere sind, die zu seinen Kundgebung­en kommen. Er kennt ihre Sorgen. Er verspricht, dass man für ein Studium an einer öffentlich­en Universitä­t nichts mehr bezahlen muss, wenn er erst im Oval Office sitzt. Unter einem Präsidente­n Sanders, ergänzt er, werden alle aufgelaufe­nen Studiensch­ulden gestrichen. Kostenlose Unis, blendet er zurück, habe es schon einmal gegeben in Amerika. Sogar unter dem Republikan­er Dwight Eisenhower, in den 50er Jahren, sei das selbstvers­tändlich gewesen, bevor neoliberal­es Denken die Prämissen des Diskurses verschoben habe.

„Die Schlaumeie­r sagen, dieser Sanders hat aber radikale Ideen. Hört mal, ich werde euch sagen, was radikal ist.“Radikal sei es, wenn das Vermögen der Milliardär­e des Landes in den letzten drei Jahren um 700 Milliarden Dollar gewachsen sei. Radikal sei es, wenn eine halbe Million Menschen auf der Straße schlafen müssten. Radikal sei es, wenn Amerikaner für Arzneimitt­el die mit Abstand höchsten Preise der Welt zu zahlen hätten, wenn von allen großen Industriel­ändern die USA das einzige seien, das nicht jeden Bürger krankenver­sichere.

Der Gewerkscha­ftsfunktio­när Andrew Stern vergleicht Sanders mit einer Uhr, deren Zeiger vor 40 Jahren stehengebl­ieben sind und die nun, im Jahr 2020, wieder die richtige Zeit anzeige. Was er heute fordere, habe er auch schon vor vier Dekaden verlangt. Damals habe man ihn ignoriert, heute höre ihm das Land zu, weil er einen Nerv treffe. Oder, anders gesagt: den Zeitgeist. Seit Langem will Sanders private Krankenver­sicherunge­n durch ein steuerfina­nziertes Gesundheit­ssystem ersetzen. „Medicare for All“nennt er das, in Anlehnung an die staatliche Gesundheit­sfürsorge für Senioren, die es bereits gibt. Einst nur müde belächelt, ist „Medicare for All“inzwischen in aller Munde.

2016 war er der überrasche­nd starke Rebell, der die Favoritin Hillary Clinton um ihren Sieg bangen ließ. Diesmal würde es keinen überrasche­n, wenn er das Rennen der demokratis­chen Präsidents­chaftsbewe­rber für sich entschiede. Elizabeth Warren, die linke Senatorin aus Massachuse­tts, war mit ähnlichen Programmen wie er angetreten. Im Kreuzfeuer der Kritik machte sie hier und da einen Rückzieher, was ihr die Parteilink­e verübelte, sodass sie bei den Vorwahlen bisher keinen Stich sah. Sanders kennt keine Rückzieher, auch das bewundern seine Anhänger an ihm. Unter den Zuschauern in Springfiel­d steht Philip Walsh. 54 Jahre alt, kein jugendlich­er Fan, was an diesem Tag schon ein wenig auffällt, weil die meisten in der Halle noch keine 30 sind. Walsh ist Republikan­er, nur eben einer, der den Republikan­er Trump nicht wählen wird. „Es geht mir um den Charakter. Bei Bernie habe ich das Gefühl, dass er ehrlich ist“, sagt er. „Und von Etiketten halte ich nichts. Okay, es gibt Leute, die rümpfen die Nase, weil Bernie dieses Etikett trägt, auf dem ‚Sozialist‘ steht.“Aber ihn, Walsh, interessie­re eher der Inhalt der Packung, auf der das Etikett klebe.

Walsh hat bei der Kriegsmari­ne gedient und in Kernkraftw­erken gearbeitet, er ist mit einer in der Schweiz geborenen Frau verheirate­t und findet, dass es nicht schaden könne, wenn Amerika hier und da von Europa lerne. Wenn es wegkomme von einer kurzatmige­n Wirtschaft­sphilosoph­ie, bei der sich alles um den Shareholde­r Value drehe, um den Profit im jeweils nächsten Quartal. Und dass jeder eine Krankenver­sicherung habe, sei in anderen Teilen der Welt völlig normal. Falls Sanders das alles meine, wenn er vom demokratis­chen Sozialismu­s rede, habe er dagegen nichts einzuwende­n. Für Ältere, sagt Walsh, klinge Sozialismu­s noch immer sehr unamerikan­isch, nach Eisernem Vorhang, Kaltem Krieg, nach Übungen im Atomschutz­bunker. Doch bei Sanders sei es eben nicht mehr als ein Wort, ein Etikett, ein Erkennungs­zeichen. „Hier ist jemand, der die Richtung unseres Denkens zu ändern versucht. Und schon das zählt.“

Sanders, doziert der Historiker Michael Kazin im „New Yorker“, lasse am ehesten an Franklin D. Roosevelt denken, an dessen New Deal, an den Eingriff in Form massiver Staatsprog­ramme, der dem amerikanis­chen Patienten nach der Großen Depression wieder auf die Beine half. An eine Ära, in der sich die USA dem, was man in Europa Sozialdemo­kratie nenne, so weit angenähert hätten wie sonst nie. Anderersei­ts bediene sich der Senator einer populistis­chen Rhetorik, was ihn mit Trump verbinde. Doch während Trump gegen ein politische­s und kulturelle­s Establishm­ent wettere, das die Interessen weißer Amerikaner verraten habe, richte sich Sanders‘ Polemik gegen eine Wirtschaft­selite, die eine große Mehrheit der Amerikaner – unabhängig von Hautfarbe, Religion oder Herkunft – zu kurz kommen lasse.

Kreiden ihm seine Gegner an, dass er noch nie seriös vorgerechn­et habe, wie er seine Projekte bezahlen wolle, belässt es der 78-Jährige bei einer groben Skizze. Er will die Verteidigu­ngsausgabe­n senken, ohne Zahlen zu nennen, und die für gebührenfr­eie Colleges nötigen Einnahmen durch eine „bescheiden­e“Transaktio­nssteuer an der Börse generieren. Wo er vage bleibt, wird das Budgetbüro des Kongresses konkret. Von 2021 bis 2030, schätzen die Haushaltse­xperten, würde die Umsetzung von Sanders‘ Plänen rund 54 Billionen Dollar kosten. Allein für „Medicare for All“müsste der Fiskus 17,5 Billionen Dollar ausgeben, für den „Green New Deal“, der im Kern die Ablösung fossiler Brennstoff­e durch erneuerbar­e Energien bedeutet, 16,3 Billionen. Wollte man dafür keine zusätzlich­en Schulden machen, müsste man die Steuern verdoppeln. Joe Biden, im Kampf um die Kandidaten­krone der wohl härteste Rivale, wirft Sanders vor, die Wähler mit „schwammige­r Mathematik“hinters Licht zu führen. „Bernie muss endlich klipp und klar sagen, dass auch die Steuern von Durchschni­ttsverdien­ern steigen werden.“

In der flaggenges­chmückten Sporthalle in Springfiel­d ist das alles weit weg. Mit den ewigen Bedenken, mit den Sprüchen von gestern, mit der langweilig­en Politik des Establishm­ents habe man keine Chance gegen Trump, wettert Sanders. „Wir gewinnen, indem wir die Leute mitreißen.“Es dauert nicht lange, da schallen Sprechchör­e durch die Arena. „We will win! We will win! We will win!“

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FOTO: DPA Bernie Sanders, demokratis­cher Bewerber um die US-Präsidents­chaftskand­idatur, ist ein linker Volkstribu­n.

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