78 Jahre. Weiß. Wütend.
Für die einen ist er ein radikaler Bürgerschreck, für die anderen ein mutiger Reformer: Bernie Sanders mischt die US-Vorwahlen auf.
SPRINGFIELD Eine Frau in der Nacht, mit einem Baby im Arm sitzt sie unter einer alten Straßenlaterne, in der Nähe einer Mülltonne. „Rockin‘ in the Free World“, hat Neil Young vor 30 Jahren gesungen, als er das Leben einer Obdachlosen und ihres Kindes beschrieb. Jetzt dröhnt das Lied aus den Lautsprechern einer riesigen Sportarena in Springfield, Virginia. Als es ausklingt, steigt ein Mann mit schlohweißem Haar aufs Podium, genießt den Applaus, ballt kurz die Fäuste, winkt in die Menge, dann sagt er: „Wow, es sind viele Leute hier“. Worauf ihn die sechstausend Menschen, die sich auf dem Kunstrasen der Halle versammelt haben, feiern wie einen Rockstar, obwohl es doch nur eine banale Feststellung ist. Stundenlang haben sie draußen in eisigem Wind angestanden, bis die Türen aufgingen. Jetzt wedeln sie ausgelassen mit blauen und weißen Postern, auf denen nur ein Vorname steht: Bernie.
„Die Schlaumeier behaupten, Bernie könne Trump nicht schlagen“, sagt Bernie Sanders. „Nun, da erlaube ich mir, höflich zu widersprechen. Wir sind von allen das stärkste Team, um Donald Trump zu besiegen.“Er lässt seinen Zeigefinger durch die Luft fahren, während er stolz verkündet, dass sich kein anderer Kandidat auf so viele Kleinspender stützen könne, bislang auf zwei Millionen, die seinen Wahlkampf finanzierten, im Durchschnitt mit 18,50 Dollar pro Spende. Daran erkenne man schon, welche Begeisterung er wecke. Und nur so lasse sich im November die Wahl gewinnen. Diese Leidenschaft, prophezeit er, werde Leute anstecken, die sonst vielleicht nur zugeschaut hätten, junge Menschen, Arbeiter, Abgehängte, die er wieder einbeziehe in den politischen Prozess. „Wir gewinnen gegen Trump, indem wir die höchste Wahlbeteiligung in der Geschichte dieses Landes erreichen“, ruft der Senator aus Vermont, dem Zwergstaat an der kanadischen Grenze.
Sanders weiß, dass es vor allem Jüngere sind, die zu seinen Kundgebungen kommen. Er kennt ihre Sorgen. Er verspricht, dass man für ein Studium an einer öffentlichen Universität nichts mehr bezahlen muss, wenn er erst im Oval Office sitzt. Unter einem Präsidenten Sanders, ergänzt er, werden alle aufgelaufenen Studienschulden gestrichen. Kostenlose Unis, blendet er zurück, habe es schon einmal gegeben in Amerika. Sogar unter dem Republikaner Dwight Eisenhower, in den 50er Jahren, sei das selbstverständlich gewesen, bevor neoliberales Denken die Prämissen des Diskurses verschoben habe.
„Die Schlaumeier sagen, dieser Sanders hat aber radikale Ideen. Hört mal, ich werde euch sagen, was radikal ist.“Radikal sei es, wenn das Vermögen der Milliardäre des Landes in den letzten drei Jahren um 700 Milliarden Dollar gewachsen sei. Radikal sei es, wenn eine halbe Million Menschen auf der Straße schlafen müssten. Radikal sei es, wenn Amerikaner für Arzneimittel die mit Abstand höchsten Preise der Welt zu zahlen hätten, wenn von allen großen Industrieländern die USA das einzige seien, das nicht jeden Bürger krankenversichere.
Der Gewerkschaftsfunktionär Andrew Stern vergleicht Sanders mit einer Uhr, deren Zeiger vor 40 Jahren stehengeblieben sind und die nun, im Jahr 2020, wieder die richtige Zeit anzeige. Was er heute fordere, habe er auch schon vor vier Dekaden verlangt. Damals habe man ihn ignoriert, heute höre ihm das Land zu, weil er einen Nerv treffe. Oder, anders gesagt: den Zeitgeist. Seit Langem will Sanders private Krankenversicherungen durch ein steuerfinanziertes Gesundheitssystem ersetzen. „Medicare for All“nennt er das, in Anlehnung an die staatliche Gesundheitsfürsorge für Senioren, die es bereits gibt. Einst nur müde belächelt, ist „Medicare for All“inzwischen in aller Munde.
2016 war er der überraschend starke Rebell, der die Favoritin Hillary Clinton um ihren Sieg bangen ließ. Diesmal würde es keinen überraschen, wenn er das Rennen der demokratischen Präsidentschaftsbewerber für sich entschiede. Elizabeth Warren, die linke Senatorin aus Massachusetts, war mit ähnlichen Programmen wie er angetreten. Im Kreuzfeuer der Kritik machte sie hier und da einen Rückzieher, was ihr die Parteilinke verübelte, sodass sie bei den Vorwahlen bisher keinen Stich sah. Sanders kennt keine Rückzieher, auch das bewundern seine Anhänger an ihm. Unter den Zuschauern in Springfield steht Philip Walsh. 54 Jahre alt, kein jugendlicher Fan, was an diesem Tag schon ein wenig auffällt, weil die meisten in der Halle noch keine 30 sind. Walsh ist Republikaner, nur eben einer, der den Republikaner Trump nicht wählen wird. „Es geht mir um den Charakter. Bei Bernie habe ich das Gefühl, dass er ehrlich ist“, sagt er. „Und von Etiketten halte ich nichts. Okay, es gibt Leute, die rümpfen die Nase, weil Bernie dieses Etikett trägt, auf dem ‚Sozialist‘ steht.“Aber ihn, Walsh, interessiere eher der Inhalt der Packung, auf der das Etikett klebe.
Walsh hat bei der Kriegsmarine gedient und in Kernkraftwerken gearbeitet, er ist mit einer in der Schweiz geborenen Frau verheiratet und findet, dass es nicht schaden könne, wenn Amerika hier und da von Europa lerne. Wenn es wegkomme von einer kurzatmigen Wirtschaftsphilosophie, bei der sich alles um den Shareholder Value drehe, um den Profit im jeweils nächsten Quartal. Und dass jeder eine Krankenversicherung habe, sei in anderen Teilen der Welt völlig normal. Falls Sanders das alles meine, wenn er vom demokratischen Sozialismus rede, habe er dagegen nichts einzuwenden. Für Ältere, sagt Walsh, klinge Sozialismus noch immer sehr unamerikanisch, nach Eisernem Vorhang, Kaltem Krieg, nach Übungen im Atomschutzbunker. Doch bei Sanders sei es eben nicht mehr als ein Wort, ein Etikett, ein Erkennungszeichen. „Hier ist jemand, der die Richtung unseres Denkens zu ändern versucht. Und schon das zählt.“
Sanders, doziert der Historiker Michael Kazin im „New Yorker“, lasse am ehesten an Franklin D. Roosevelt denken, an dessen New Deal, an den Eingriff in Form massiver Staatsprogramme, der dem amerikanischen Patienten nach der Großen Depression wieder auf die Beine half. An eine Ära, in der sich die USA dem, was man in Europa Sozialdemokratie nenne, so weit angenähert hätten wie sonst nie. Andererseits bediene sich der Senator einer populistischen Rhetorik, was ihn mit Trump verbinde. Doch während Trump gegen ein politisches und kulturelles Establishment wettere, das die Interessen weißer Amerikaner verraten habe, richte sich Sanders‘ Polemik gegen eine Wirtschaftselite, die eine große Mehrheit der Amerikaner – unabhängig von Hautfarbe, Religion oder Herkunft – zu kurz kommen lasse.
Kreiden ihm seine Gegner an, dass er noch nie seriös vorgerechnet habe, wie er seine Projekte bezahlen wolle, belässt es der 78-Jährige bei einer groben Skizze. Er will die Verteidigungsausgaben senken, ohne Zahlen zu nennen, und die für gebührenfreie Colleges nötigen Einnahmen durch eine „bescheidene“Transaktionssteuer an der Börse generieren. Wo er vage bleibt, wird das Budgetbüro des Kongresses konkret. Von 2021 bis 2030, schätzen die Haushaltsexperten, würde die Umsetzung von Sanders‘ Plänen rund 54 Billionen Dollar kosten. Allein für „Medicare for All“müsste der Fiskus 17,5 Billionen Dollar ausgeben, für den „Green New Deal“, der im Kern die Ablösung fossiler Brennstoffe durch erneuerbare Energien bedeutet, 16,3 Billionen. Wollte man dafür keine zusätzlichen Schulden machen, müsste man die Steuern verdoppeln. Joe Biden, im Kampf um die Kandidatenkrone der wohl härteste Rivale, wirft Sanders vor, die Wähler mit „schwammiger Mathematik“hinters Licht zu führen. „Bernie muss endlich klipp und klar sagen, dass auch die Steuern von Durchschnittsverdienern steigen werden.“
In der flaggengeschmückten Sporthalle in Springfield ist das alles weit weg. Mit den ewigen Bedenken, mit den Sprüchen von gestern, mit der langweiligen Politik des Establishments habe man keine Chance gegen Trump, wettert Sanders. „Wir gewinnen, indem wir die Leute mitreißen.“Es dauert nicht lange, da schallen Sprechchöre durch die Arena. „We will win! We will win! We will win!“