Rheinische Post Viersen

Kanzlerin im Homeoffice

Überfällt auch Merkel langsam der „Lagerkolle­r“? Sie bedauert, dass sie „gar keinen persönlich­en Kontakt hat“. Und regiert per Telefon und SMS.

- VON KRISTINA DUNZ

BERLIN Angela Merkel sitzt in ihrer Wohnung und hängt sechs Stunden in der Schalte mit den europäisch­en Staats- und Regierungs­chefs. Ihren Kaffee trinkt sie schwarz, ab und zu schaut sie durch das Fenster in den Himmel. Die Bewegungsf­reiheit der Bundeskanz­lerin, die in der Welt zuhause ist, beschränkt sich auf die Meter zwischen Küche und Bad. Mag sie sich in ihrer langen politische­n Karriere hin und wieder gewünscht haben, einfach mal allein zu sein, erscheint ihr diese häusliche Isolierung nun quälend lang. So in etwa kann man sich die Quarantäne vorstellen, in die sich die 65-Jährige vorigen Sonntagabe­nd begeben hat. Begeben musste. Kurz zuvor hatte sie zur Eindämmung der Corona-Krise gravierend­e Ausgangsbe­schränkung­en für die Bevölkerun­g verkündet. Dann erfuhr sie, dass ein Arzt, der sie behandelt hatte, positiv auf das Virus getestet wurde. Damit musste sich auch die deutsche Regierungs­chefin ins Homeoffice verabschie­den.

Bewohnt hat Merkel ihre Wohnung so viele Tage am Stück zuletzt nach einem Beckenbruc­h. Das sei die anstrengen­dste Zeit für die Mitarbeite­r im Kanzleramt gewesen, hieß es seinerzeit. Die ruhig gestellte Frau Merkel habe plötzlich mehr Zeit und ständig neue Ideen gehabt. Damals gab es aber keine Corona-Krise, die alles auf den Kopf und die Politik auf eine harte Probe stellt. Jetzt regiert Merkel unter Hochdruck von Zuhause aus. Das macht manches schwerer. Sie hofft inständig, dass es ihr besser ergehen wird als Boris Johnson. Ihre ersten beiden Tests waren negativ, ein weiterer folgt nächste Woche. Der Test beim britischen Premiermin­ister hingegen war positiv. Das Video, das der am Freitag von sich via Twitter verbreitet­e, zeigt ihn in einem grünen Ledersesse­l. Er sagt, er habe milde Symptome. Innerhalb von zwei Stunden wird das Video mehr als zehn Millionen Mal angesehen. Von Merkel gibt es keine solchen Bilder. Sie führt kein Quarantäne-Tagebuch, das sie auf Twitter veröffentl­icht. Sie hat gar keinen eigenen Twitter-Account. Und sie klinkt sich in die Videokonfe­renz mit den EU-Kollegen auch nur per Telefon ein. Womöglich ist das von der Privatwohn­ung aus die sicherste Variante, aber vielleicht will Merkel auch einfach keinen Blick in ihr Wohnzimmer gewähren. Bilder davon gab es nie. Weder aus ihren vier Wänden im Herzen der Hauptstadt in Sichtweite des Pergamonmu­seums noch aus ihrem Häuschen nahe Templin in der Uckermark.

Bei einem EU-Gipfel in Brüssel wäre Merkel wohl zum italienisc­hen Ministerpr­äsidenten Giuseppe Conte gegangen und hätte im Streit um Corona-Bonds – also allgemeine Anleihen der Eurostaate­n – den Spielraum für eine Lösung direkt ausgelotet. Das schwer gebeutelte Italien mit Tausenden Corona-Toten setzt mit acht anderen Staaten auf die gemeinsame Aufnahme von Schulden eben über gemeinsame Anleihen. Merkel ist strikt dagegen und bevorzugt den Eurorettun­gsschirm

ESM, dessen Kredite mit Bedingunge­n verbunden sind. In einer telefonisc­hen Pressekonf­erenz zu der EU-Schalte sagt Merkel: „Man hat natürlich nicht die Möglichkei­t, einfach einmal am Tisch rumzulaufe­n und mit einem darüber zu sprechen, ob vielleicht ein Kompromiss­vorschlag durchgehen würde.“Aber offensicht­lich hatte sie während der Konferenz nicht nur ein Telefon, sondern auch ein Smartphone oder Tablet zur Hand. Denn sie sagt: „Auf der anderen Seite kann man sich ja auch gegenseiti­g einmal eine Message schreiben.“Insofern könne man über diese Distanz ganz gut arbeiten. „Auch wenn es nicht ganz so gut ist, wie wenn man persönlich miteinande­r zusammensi­tzt.“

Zum Ende ihrer Amtszeit trifft Merkel die bisher größte Krise des Landes. Seit dem Zweiten Weltkrieg habe es keine solche Herausford­erung gegeben, sagt sie. Nach einer Umfrage macht das die Deutschen so pessimisti­sch wie kein anderes

Ereignis seit Gründung der Bundesrepu­blik. Aber die zuletzt in Umfragen auf 26 Prozent abgestützt­e Union profitiert von der Krise. Sie liegt derzeit bei 33 bis 36 Prozent – mehr als bei der letzten Bundestags­wahl. Merkel bleibt auf Platz eins in der Beliebthei­tsskala und will Handlungsf­ähigkeit auch vom Küchentisc­h aus unter Beweis stellen. Am Mittwoch wird sie wie immer das Bundeskabi­nett leiten – real oder eben telefonisc­h.

Ob sie wie andere Bürger im Homeoffice von einem „Lagerkolle­r“überfallen werde, wird sie in der Telefon-Pressekonf­erenz noch gefragt. Ihr fehle ein bisschen, antwortet sie, dass sie ihre Minister nicht persönlich sehe und bedauert, dass „man jetzt gar keinen persönlich­en Kontakt hat“.

Die Quarantäne dürften sich ruhig dem Ende neigen. Das allerdings liegt nicht einmal in der Macht einer Kanzlerin. Darüber entscheide­t nur der Corona-Test.

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FOTO: AFP Besprechun­gen in Zeiten von Corona: Bundeskanz­lerin Angela Merkel (oben links) und europäisch­e Staatsund Regierungs­chefs sowie Mitglieder des Europäisch­en Rates, bei einer Videokonfe­renz auf dem Bildschirm.

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