Wehmütiger Abschied von der „Lindenstraße“
Die letzte Folge läuft am Sonntag um 18.50 Uhr in der ARD. Unsere Autorin hat ihr halbes Leben mit dieser Serie verbracht.
Sie haben es noch einmal getan. In der vorletzten Folge der „Lindenstraße“spricht Markus Söder in Klaus Beimers Wohnzimmer aus dem Radio von Bayerns „historischer Bewährungsprobe“. Immobilienunternehmer Wolf ist im „Homeoffice“, und als ein Passant an der Linde niest, sagt Murat: „Hoffentlich kein Corona.“
Dass die „Lindenstraße“zum Abschied ein letztes Mal mit ihrer Spezialität auftrumpft, das aktuelle Lebensgefühl ihrer Zuschauer aufzunehmen, ist nicht deshalb bemerkenswert, weil beim letzten Drehtag am 20. Dezember das Virus selbst in China noch unbekannt war – eine Serie, in der drei Jahrzehnte lang an Wahlsonntagen verlässlich die Hochrechnungen diskutiert wurden, die erst eine Stunde alt waren, kann so was. In solchen Fällen war ich immer fast so etwas wie stolz auf „meine“Serie.
Besonders sind die aktuellen Verweise auf die Pandemie deshalb, weil Mutter Beimer eben kein Klopapier
hamstert und Dr. Brooks ihre Praxis nicht wegen fehlender Desinfektionsmittel schließt. Das geht gar nicht, weil es keine Drehtage und keine Kulissen mehr gibt. Und trotzdem, in den letzten Zügen der längsten deutschen Seriengeschichte macht sich das Team – genauer: das, was noch übrig ist – die Mühe, mit den allerletzten, wenn auch kärglichen Mitteln den Standard zu verteidigen, die aktuellste Serie im deutschen Fernsehen zu sein.
Das ist klasse. Sozusagen großes Fernsehen. Sonst aber ist lange schon nichts mehr, wie es einmal war. Spätestens seit das Ende verkündet wurde, wirkte so mancher Handlungsstrang der „Lindenstraße“eben nicht mehr wie ein Abbild deutscher Wirklichkeit. Autoren und Regisseure schienen angesichts des absehbaren Finales noch mal so richtig auf- und dabei auch zu überdrehen. Anleihen aus David Lynchs Thriller-Kiste bis hin zur „Twin Peaks“-Melodie. Von Jack, die mehrere Wochen im Krankenhaus war und erst danach entdeckte, dass sie schwanger ist, will ich erst gar nicht reden. Das hätte bei mir schon vor Bekanntwerden des Serienendes fast zum Ausstieg geführt.
Bei der „Lindenstraße“, die zu deutlich mehr als nur der Hälfte meines Lebens gehörte, dulde ich keine Logikfehler. Dass ich es am Ende dann doch widerwillig getan habe, lag vermutlich schon am angekündigten Serien-Aus. Ich mag keine unvollständigen Buchreihen
oder Bilderserien und ertrage nur schwer, dass in meinem Silberbesteck ein Messer fehlt. Nach über drei Jahrzehnten ausgerechnet die letzten Folgen einer Serie nicht zu sehen, hätte mich deshalb wohl noch mehr verstört, als der allsonntägliche Ärger über Jaquelines amnesiegeborenes Überraschungskind und das noch unlogischere Verhalten seines Vaters.
Ungefähr zwölf Millionen Menschen sind nicht so wie ich. So viele Zuschauer hat die „Lindenstraße“seit ihrem Sendestart verloren. Vor allem die in meinem Alter haben Kinder bekommen, Häuser gebaut und sonntagsabends andere Dinge wichtig gefunden. Sie sind der „Lindenstraße“eher davongelebt, so wie auch mir ein paar Leute von einst im Lauf der Jahre abhanden gekommen sind. So gesehen kann ich wohl sagen, dass meine Beziehung zu Klaus, Vasily und Andy Zenker länger dauerte, als die meisten anderen, 35 Jahre. Und jetzt ist also Schluss.
Die Zeichen stehen auf Abschied. Neyla hat gepackt, Johannes ist schon ausgezogen, und aus irgendwelchen Gründen sortiert auch Carsten seine Siebensachen. Man muss sich manchmal trennen können, sagt Anna in der vorletzten Folge zu ihm. Und ja, sie hat recht.
Der nächste Sonntag ist ein bisschen so wie der zivilisierte Termin mit dem Ex, der seine Klamotten holen kommt: Man fürchtet sich noch ein bisschen vor der Endgültigkeit, und stellt auf einmal fest, dass man ihn nicht halb so sehr vermissen wird wie seinen Kaffeeautomaten. Und dass das, was sich wie feuchte Watte aufs Gemüt legt, nicht Schmerz und Trauer sind. Sondern bloß ein Hauch von Wehmut mit ein bisschen Nostalgie.
Müßig zu fragen, ob wir uns auch auseinandergelebt hätten, wenn nicht vor mehr als einem Jahr das Ende angekündigt worden wäre. Wenn nicht plötzlich Sommerpausen und Weihnachtsferien eingeführt worden und Sendetermine wegen irgendwelcher Sportübertragungen gecancelt worden wären. Fakt ist: Wir sind einander fremd geworden. Auch, weil es die „Lindenstraße“nicht mehr schaffte, uns
Stammzuschauer zu überraschen. Wir haben den ersten Männerkuss und den ersten Aids-Toten (hetero, nur mal nebenbei) im deutschen Fernsehen gesehen, wir haben uns mit alten (Onkel Franz) und neuen (Olli Klatt) Nazis auseinandergesetzt, haben Suizide (Amelie und von Salen-Priesnitz) miterlebt, Kinderschänder, Sektenopfer, Mörder. Was soll da noch kommen?
Kurz vor dem Ende kam doch noch etwas Neues. Ein Baum, der bislang keine Rolle spielte, obwohl er der künstlichen Straße in Köln ihren Namen gab. Um die Linde, die plötzlich gefällt werden sollte, erdachten die Autoren den Aufstand, der über das Serienende erwartet worden, aber ausgeblieben war. Murat legte sich in Ketten, um die „Linda“zu retten. Eine schöne Metapher, die empfindlich gestört wird, als ausgerechnet Christine Neubauer auftaucht, um als Politikerin der Linde ein langes Leben zu garantieren. Bloß gut, dass es ein Ende hat.
Tschüs, Lindenstraße. Es war (fast immer) schön mit dir. Aber jetzt ist auch gut.