„Der Kapitalismus muss gerechter werden“
Die internationale Finanzexpertin stammt aus Mönchengladbach. Sie ist aus New York zurück, wo sie lebt und wo Corona-Ausnahmezustand herrscht.
Frau Navidi, Sie stammen aus Mönchengladbach, leben eigentlich in New York City, sind jetzt zurückgekehrt. Weshalb?
Sandra Navidi New York City ist das Corona-Epizentrum der USA, und insbesondere die Trump-Administration ist im Umgang mit dieser Krise eine einzige Katastrophe. Deswegen bin ich recht kurzfristig nach Mönchengladbach zurückgekommen. Politik und Verwaltung gehen in Deutschland viel umsichtiger mit der Krise um als in den USA.
New York City hat die meisten Corona-Infektionen in den USA. Wie ist die Lage?
Navidi Die Lage ist schlimmer, als es die Medien abbilden. In New York City, wo alle dicht gedrängt leben und sich das Virus rasend schnell verbreiten kann, ist die Stimmung apokalyptisch. Die Straßen der Stadt, die nie schläft, sind jetzt totenstill. Man hört nur ständig die Sirenen der Krankenwagen. Die Menschen haben Angst. Dabei war die Entwicklung doch absehbar. Auf dem Weltwirtschaftsgipfel in Davos bekam man die steigenden Schlagzahlen schon Mitte Januar mit. Als Corona dann zwei Wochen später China lahmlegte, war endgültig abzusehen, dass es uns alle erwischen wird. Ich war am 25. Januar in Mönchengladbach und wollte mir eine Schutzausrüstung bestellen, vergeblich. Die US-Behörde für Lebens- und Arzneimittel richtete Ende Februar einen dramatischen Appell an die Bevölkerung, denn es gab keine Schutzmasken mehr. Washington spielte das Ganze herunter. Das änderte sich schlagartig zehn Tage später, als die Opferzahlen aus Italien bekannt wurden und sich die Covid-19-Fälle auch in den USA häuften. Bis heute sind in den USA nur zehn Prozent der benötigten Test-Kits erhältlich.
Wieso wurde denn auf der ganzen Welt so spät reagiert? Bei uns wurde noch der Karneval gefeiert ...
Navidi Wenn man vor dem Karneval feiern abgeraten hätte, wäre das als Panikmache abgetan worden. Es herrscht kognitive Dissonanz: Man will feiern, also blendet man Informationen, die diesem Wunsch im Weg stehen, aus. Man will sich eine Ausgehsperre gar nicht vorstellen, also denkt man erst gar nicht über den Grund für eine Stilllegung des öffentlichen Lebens nach.
Sie sind Expertin für Investments und stark vernetzt an der Wall
Street. Wie ist die Stimmung dort? Navidi Es herrscht Weltuntergangsstimmung. Börsianer und die mächtigen Silicon-Valley-Vertreter hatten die Krise befürchtet, auch Microsoft-Gründer Bill Gates hatte früh gewarnt. Die Superreichen sind aus den Städten geflohen und haben sich in ihre Zweitwohnsitze zurückgezogen. Dort bauen sie nun ihre privaten Isolierstationen.
Ist die Krise gerecht, weil sie jeden trifft?
Navidi Nein. Die Superreichen haben ihre Vorkehrungen getroffen. Bekannte Persönlichkeiten werden umgehend getestet. Bürger, die vor den Krankenhäusern lange Schlange stehen, um sich testen zu lassen, brechen während der Wartezeit tot zusammen.
Welche Folgen befürchten Sie für die Weltwirtschaft?
Navidi Sehr drastische. Die negativen Folgen werden umso höher sein, je länger die Stilllegung der globalen Wirtschaft andauern wird. Wie lange dies sein wird, hängt davon ab, wie lange das Virus grassiert. Die Maßnahmen der Zentralbanken und der Rettungsschirme der Regierungen können nur begrenzt greifen.
Der Vorstoß des Düsseldorfer Oberbürgermeisters Thomas Geisel, nur Risikogruppen zu isolieren, ohne alle Menschen so massiv einzuschränken, ist auf breite Diskussion gestoßen.
Navidi Ja, diese Meinung existiert in den USA in noch übersteigertem Maße. Man muss allerdings differenzieren: Natürlich können nicht alle Leute bis an ihr Lebensende zu Hause sitzen. Bevor die Einschränkungen gelockert werden, müssen aber zunächst flächendeckend Corona-Tests und vor allem auch Antikörper-Tests auf Immunität durchgeführt werden. Anhand der Testergebnisse kann die Wirtschaft dann wieder schrittund regionsweise geöffnet werden. Wenn die Wirtschaft längerfristig wegbricht, wird es vermutlich soziale Unruhen geben.
Viele Anleger sind verunsichert. Was sollen sie mit ihrem Geld machen? Navidi Das Wichtigste: Keine Panikverkäufe. Der Fokus liegt auf Vermögenserhalt. Man kann in Firmen investieren, die Produkte für die Unterhaltung zu Hause und fürs Homeoffice herstellen. Sport- und Filme-Apps, Cloud-Lösungen, Angebote, die Videokonferenzen ermöglichen. Daneben sind bestimmte Pharmabereiche interessant. Diese Unternehmen werden natürlich schnell teuer. Mein Verhältnis zu Goldkäufen ist gespalten. Einen begrenzten Teil seines Vermögens darin zu investieren ist vertretbar, aber Gold stellt keine Wunderlösung dar.
Sie sind bekennende Kritikerin von US-Präsident Donald Trump. Wie beurteilen Sie sein Agieren in der Krise?
Navidi Als unfassbar. Seine Nachrichtendienste hatten Trump bereits im Dezember 2019 über die aufkommende Krise informiert. Er reagierte nicht, behauptete, dies sei nur Schwindel, erfunden, um ihm persönlich zu schaden. Diese Haltung hielt er bis vor einem Monat aufrecht. Seitdem behauptet er, dass die Krise ja gar nicht so schlimm sei. Die Haupterkenntnis im Hinblick auf Covid-19 ist das exponentielle Wachstum der Infektion. Das hat Trump nicht begriffen. Stattdessen ermuntert er die Bürger dazu, Ostern ruhig in die Kirche zu gehen. Alles, was er sagt und tut, ist reine Eigen-PR, um als Präsident wiedergewählt zu werden.
Wie ist das Krisenmanagement in New York?
Navidi Der Gouverneur des Bundesstaats New York, Andrew Cuomo, ist ganz anders als Trump: Er ist umsichtig, empathisch, ruhig. Er beschönigt nichts. Er sollte Präsidentschaftskandidat der Demokraten werden. Bill de Blasio, Bürgermeister von New York City, fühlt sich vom Präsidenten im Stich gelassen: Die Stadt soll nur umgerechnet eine Milliarde Dollar von den insgesamt zwei Billionen beschlossenen Hilfsgeldern erhalten. Dabei ist New York City das Epizentrum der Krise in den USA. Aber Trump hegt eine Antipathie gegen die Stadt, weil die Bürger dort traditionell die Demokraten wählen.
Macht Trump wirklich alles falsch? Immerhin empfehlen in Deutschland bereits Investmentexperten, amerikanische Aktien zu kaufen. Navidi Naja, diejenigen, die etwas empfehlen, haben etwas zu verkaufen. Wenn wir 30 Prozent Arbeitslosigkeit haben werden und Hunderttausende Tote, werden es auch US-Aktien schwer haben.
Wird Trump am 3. November erneut zum US-Präsidenten gewählt? Navidi Wenn Trumps Umfragewerte sinken und er um seine Wiederwahl fürchtet, halte ich es nicht für ausgeschlossen, dass er die Wahlen aufgrund eines „nationalen Notstands” aussetzen wird. Die Republikaner würden diesen Entschluss vermutlich unterstützen. Trumps Strategie ist das Chaos: Je größer das ist, desto besser stehen die Chancen für ihn, seine autokratischen Ambitionen auszubauen. Das Chaos hat er mittlerweile
auf die gesamte Administration des Landes ausgedehnt.
Welche Lehren werden wir aus der Krise ziehen müssen?
Navidi Die Krise wird sich auf unseren Konsum auswirken, weil die Lieferketten unterbrochen sind. Unser Lebensstandard wird wahrscheinlich nicht mehr der gleiche sein. Wir müssen viel mehr Geld in die Pandemieforschung investieren, denn das Virus wird mutieren. Es wird auch andere Viren geben. Und: Der Kapitalismus muss gerechter werden.
Obwohl Sie viele Jahre in New York City gelebt haben, sind Sie in Mönchengladbach fest verwurzelt. Was bedeutet Familie für Sie – besonders jetzt?
Navidi Mönchengladbach ist meine Heimatstadt, hier sind meine emotionalen Wurzeln. Jetzt versuche ich, meiner Familie zur Seite zu stehen. Ich weiß noch nicht, wie lange ich bleiben werde. Ich hatte einen Rückflug für Mitte Juni gebucht, aber das war wohl zu optimistisch. Jetzt hoffe ich auf Rückkehr im Herbst, fürchte aber, es wird eher Anfang 2021, bis ich New York City wiedersehe. Ich besitze seit fast drei Jahrzehnten eine Green Card für die USA – ich kann also jederzeit ins Land einreisen, unter welchen Umständen allerdings ist unklar.