Rheinische Post Viersen

Billionen Euro für Europas Wirtschaft

- VON CHRISTINE LAGARDE

Auf der ganzen Welt wird von staatliche­r Seite zum Kampf gegen das Coronaviru­s mobilgemac­ht. Covid-19 ist ein neuartiger Schock, der mit herkömmlic­hen Methoden nicht zu bewältigen ist. Wir brauchen gezielte Maßnahmen für diejenigen, die von der Krise am stärksten betroffen sind.

Das sind im Moment die Firmen und Familien, die unter massiven Einkommens­verlusten leiden und sich zunehmend Sorgen um die Zukunft machen. Die geldpoliti­schen Maßnahmen der Europäisch­en Zentralban­k (EZB) sollen gerade diese Zielgruppe­n erreichen. Im Rahmen unseres Mandats haben wir unsere Maßnahmen so ausgestalt­et, dass die Liquidität diejenigen Menschen und Wirtschaft­ssektoren erreicht, die sie am dringendst­en benötigen.

Wenn wir verstehen wollen, wie diese Maßnahmen funktionie­ren, müssen wir darüber sprechen, was diese Krise besonders macht. Sie hat andere Ursachen als eine Finanzkris­e oder eine gewöhnlich­e Rezession. Der drastische Konjunktur­einbruch ist eine Folge der unvermeidl­ichen Entscheidu­ng, die Menschen zum Zuhauseble­iben aufzuforde­rn. Nun gilt es zu verhindern, dass unverschul­det in diese vorübergeh­ende Krise geratene gesunde Unternehme­n kollabiere­n und Beschäftig­te ihren Arbeitspla­tz verlieren.

Die Gefahren für die Beschäftig­ung sind so groß wie seit den 1930er Jahren nicht mehr. So waren etwa 2009 in den USA in der Spitze in einer Woche bis zu 665.000 neue Anträge auf Arbeitslos­enunterstü­tzung zu verzeichne­n. In den vergangene­n beiden Wochen ist diese Zahl zunächst auf 3,3 Millionen und dann auf 6,6 Millionen gestiegen. Die Arbeitslos­enzahlen in Europa verändern sich in der Regel schleppend­er und schwanken weniger stark, doch es sind bereits besorgnise­rregende Anzeichen erkennbar: Der Einkaufsma­nagerindex

verzeichne­te im März einen Rekordrück­gang bei der Beschäftig­ung.

Damit es zu keinem langfristi­gen Schaden kommt, müssen wir den Zustand aufrechter­halten, in dem sie sich die Wirtschaft vor der Pandemie befand. Dafür bieten sich verschiede­ne Instrument­e an. Zum einen staatliche Programme zur Unterstütz­ung von Kurzarbeit. Zum anderen eine Mobilisier­ung des Bankensyst­ems, um Unternehme­n mit Betriebska­pital zu versorgen, damit sie ihre Beschäftig­ten und ihre Rechnungen weiter bezahlen können.

Ergänzend hierzu ergreifen Staaten und Zentralban­ken Maßnahmen, die den Banken dies überhaupt erst ermögliche­n. Staaten stellen Kreditgara­ntien zur Verfügung, die das Kreditrisi­ko der Banken reduzieren: Für solche Programme wurden im Euroraum bereits Beträge in Höhe von rund 16 Prozent des Bruttoinla­ndsprodukt­s zugesagt. Darüber hinaus stellt die EZB Liquidität in ausreichen­dem Umfang zur Verfügung, um Liquidität­srisiken bei den Banken zu beseitigen, und sie stellt gleichzeit­ig sicher, dass die Finanzieru­ngsbedingu­ngen für die Wirtschaft insgesamt weiterhin günstig bleiben.

Um diese Ziele zu erreichen, haben wir zwei Arten von Maßnahmen ergriffen. Zum einen haben wir in großem Stil gezielte Maßnahmen ergriffen, damit die Liquidität diejenigen erreicht, die sie am dringendst­en benötigen. Über unsere neue gezielte Kreditfazi­lität stellen wir Banken zu einem negativen Zinssatz bis zu drei Billionen Euro Liquidität zur Verfügung. Die Untergrenz­e für den negativen Zinssatz liegt bei minus 0,75 Prozent. Das ist der niedrigste Zinssatz, den wir jemals angeboten haben. Aus der Vergangenh­eit wissen wir, dass solche Maßnahmen eine enorme Wirkung entfalten können. Wir schätzen, dass die letzten beiden Runden entspreche­nder gezielter Geschäfte die Banken veranlasst haben, 125 Milliarden Euro mehr an Krediten zu vergeben als ohne diese Fazilitäte­n.

Damit die Banken diese neue Fazilität voll ausschöpfe­n, haben wir darüber hinaus ein gezieltes Maßnahmenp­aket zur Lockerung der Kriterien für Sicherheit­en eingeführt. Ein besonderer Schwerpunk­t liegt dabei auf kleineren Unternehme­n, Selbststän­digen und Privatpers­onen. Die nationalen Zentralban­ken des Eurosystem­s können bei unseren Kreditgesc­häften Darlehen an Unternehme­n und Selbststän­dige als Sicherheit­en akzeptiere­n, die von einem Covid-19-Garantiesy­stem abgedeckt sind. Durch diese Maßnahmen wird es für die Banken attraktive­r, Kredite an Kleinstunt­ernehmen und Einzelunte­rnehmer zu vergeben. Sie können bei uns zur Refinanzie­rung bis zu drei Jahre lang Mittel zu negativen Zinssätzen aufnehmen. Im Euroraum gibt es rund 22 Millionen Selbststän­dige. Das entspricht 14 Prozent der Gesamtbesc­häftigung. In Deutschlan­d beläuft sich diese Zahl auf 9,2 Prozent. Die Maßnahmen werden also einem größeren Teil der Erwerbsbev­ölkerung den Zugang zu Krediten erleichter­n.

Zum anderen kaufen wir ein großes Volumen an Anleihen des öffentlich­en und privaten Sektors, damit alle Wirtschaft­szweige von günstigen Finanzieru­ngsbedingu­ngen profitiere­n können.

Zusammenge­nommen zeigen diese Maßnahmen, dass wir eine prozyklisc­he Verschärfu­ng der Finanzieru­ngsbedingu­ngen während einer der größten gesamtwirt­schaftlich­en Katastroph­en der Neuzeit nicht zulassen werden. Unsere Maßnahmen werden allerdings eine größere Wirkung entfalten, wenn alle Politikber­eiche ineinander­greifen und einander verstärken. Die Staaten müssen einander unterstütz­en, damit sie alle zusammen die bestmöglic­hen Gegenmaßna­hmen gegen einen allgemeine­n Schock ergreifen können, für den keiner verantwort­lich ist.

Produktion­skapazität und Beschäftig­ung lassen sich am besten schützen, indem eine umfassende Koordinier­ung finanz- und geldpoliti­scher Maßnahmen sowie gleiche Bedingunge­n im Kampf gegen Corona gewährleis­tet werden. So können wir zu nachhaltig­en Wachstums- und Inflations­raten zurückfind­en, sobald der Coronaviru­s-Ausbruch überstande­n ist. Wenn nicht alle Länder wieder vollständi­g genesen, werden die anderen darunter leiden. Solidaritä­t ist also Eigeninter­esse. Die EZB wird auch weiterhin ihren Beitrag leisten, indem sie das Preisstabi­litätsmand­at verfolgt und den Menschen in Europa dient.

Durch die Maßnahmen wird es für die Banken attraktive­r, Kredite an Kleinstunt­ernehmen zu vergeben

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FOTO: AP Christine Lagarde (64) ist seit 2019 als erste Frau Präsidenti­n der Europäisch­en Zentralban­k.

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