„Scheitern Europas ist nicht ausgeschlossen“
Der Kandidat für den CDU-Vorsitz sieht wegen der Corona-Krise die Europäische Union in Gefahr. Er warnt jedoch davor, die daraus folgenden Lasten allein auf die Schultern Deutschlands zu legen. „Solidarität ist keine Einbahnstraße“, sagt Merz.
Herr Merz, Sie waren an Covid-19 erkrankt. Wie fit sind Sie wieder? MERZ Am 1. April wurde ich offiziell aus der Quarantäne entlassen. Seitdem bin ich im Büro und habe auch angefangen, wieder Sport zu treiben. Also: Ich bin wieder fit und habe auch keinerlei Symptome mehr.
Wie haben Sie bemerkt, dass Sie nicht einen grippalen Infekt haben, sondern Covid-19?
MERZ Ich hatte am zweiten Märzwochenende leichte Grippesymptome und dachte zuerst gar nicht an Corona. Aber dann bekam ich den freundlichen Hinweis eines Berufskollegen von Ihnen, den ich in Berlin getroffen hatte – er schrieb mir, dass er positiv getestet wurde. Das habe ich dann angesichts der sich verstärkenden Symptome zum Anlass genommen, selbst auch einen Test machen zu lassen.
Sie haben sich also bei einem Journalisten angesteckt?
MERZ Ja, das ist die wahrscheinliche Infektionskette.
Die Bundesregierung hat für die Wirtschaft ein Hilfspaket von Direktzahlungen bis Bürgschaften geschnürt, das ein Volumen von drei Bundeshaushalten umfasst. Ist das angemessen?
MERZ Aus heutiger Sicht: ja. Ob es in dieser Form wirklich zielgenau und ausreichend ist, das werden wir erst in der Rückschau beurteilen können. Die Bundesregierung kann eben auch nur von Tag zu Tag entscheiden. Aktuell wäre deshalb Kritik fehl am Platz.
Was meinen Sie mit zielgenau? MERZ Wenn man in diesem Umfang Geld ausgibt, dann ist es unvermeidlich, dass auch Unternehmen gestützt werden, die selbst ohne Corona-Krise nicht überlebensfähig gewesen wären, und dass man umgekehrt Unternehmen, die eine solche Hilfe nicht bräuchten, trotzdem unter die Arme greift.
Ist es nicht höchste Zeit, eine Exit-Strategie aufzustellen, wie man aus dem Lockdown rauskommt? MERZ Ich gehe davon aus, dass die Bundesregierung und die Landesregierungen in der Woche nach Ostern
erklären werden, in welcher Schrittfolge sie zur Normalität zurückkehren wollen. Wobei ich damit rechne, dass es bis zum kompletten Normalzustand noch lange dauern wird. Denn viele Unternehmen kann man nicht einfach ausschalten und am Tag X wieder einschalten.
Ist die Corona-Krise für das Finanzsystem schlimmer als die Eurokrise?
MERZ Diese Krise hat eine viel größere Wucht als die Finanzkrise 2008/2009. Die Gefährdung des Zusammenhalts in der Europäischen Union und in der Finanzunion ist größer. Aber wir haben aus der Krise 2008/2009 gelernt: Entscheidend wird die Ausstattung der Unternehmen mit einer ausreichenden Eigenkapitalbasis sein. Wir sollten den Fehler nicht wiederholen, den wir in Europa nach der Finanzkrise mit unseren Banken gemacht haben: Wir haben sie zwar gerettet, aber sie sind nicht mit genügend Eigenkapital ausgestattet. Die Kapitalbasis der Unternehmen wird eine wesentliche Stellschraube sein, um sie für die Zukunft wettbewerbsfähig zu halten.
Wie stellen Sie sich die Stärkung der Eigenkapitalbasis der Unternehmen vor?
MERZ In Amerika wurden die Banken in der Krise zwangskapitalisiert. Im Ergebnis sind die US-Banken seitdem stärker denn je, und die europäischen Banken finden bis heute den Anschluss nicht. Das darf uns bei der Industrie nicht passieren. Vielen Unternehmen werden die Darlehen langfristig nicht helfen. Sie brauchen eine starke Kapitalausstattung.
Sind staatliche Eigenkapital-Spritzen für die Industrie vorstellbar? MERZ Ich würde an dieser Stelle nicht nur national denken, sondern auch europäisch. Eine solche Krise ist auch die Chance, über größere Unternehmen, größere Einheiten, in Europa nachzudenken – besonders in der Digitalindustrie. Im Vergleich zu den USA haben wir zu wenige große europäische Digital-Unternehmen.
Wie sieht Ihr favorisiertes Modell aus, den Euro zu stabilisieren? MERZ Ich halte den Dreiklang, den die Bundesregierung im Hinblick auf Europäischen Stabilitätsmechanismus, Europäische Investitionsbank und EU jetzt vorschlägt, für richtig. Und ich bleibe bei meiner festen Überzeugung, dass die Verantwortung für Einnahmen und Ausgaben in einer Hand bleiben müssen. Die Krise darf kein Anlass für die Einführung von Eurobonds sein, auch wenn sie im Gewand der Corona-Bonds daherkommen. Ich sage Ja zur umfassenden Hilfe in Europa, aber nicht mit Instrumenten, die den Zusammenhang zwischen politischer Verantwortung und der Haftung dafür aufheben.
Deutschland wird zum Beispiel von Italien und Frankreich vorgeworfen, dass es nicht solidarisch genug ist. Können Sie das nachvollziehen?
MERZ Vielleicht sollten wir unseren europäischen Nachbarn, insbesondere denen, die sich jetzt so laut beschweren, erneut einmal sagen, dass schon die Einführung des Euro ein großer Akt der Solidarität für diese Länder gewesen ist. Denn sie sparen dadurch jedes Jahr zweistellige Milliardenbeträge an Zinsen für ihre Staatsverschuldungen. In den Hilfsprogrammen, die jetzt in Europa aufgelegt werden, wird sich unsere europäische Solidarität erneut in dreistelliger Milliardenhöhe zeigen. Solidarität kann aber nicht darin bestehen, jetzt Finanzierungsmöglichkeiten für Probleme zu eröffnen, die schon vor der Corona-Krise bestanden haben. Der viel kritisierte Weg, den Deutschland gegangen ist, nämlich die Verschuldung nach der Finanzkrise wieder auf ein verträgliches und vertragskonformes Maß zu reduzieren, war der einzig richtige Weg, um für eine Krise wie diese gerüstet zu sein. Aus dieser Position heraus sind wir bereit und in der Lage, unseren europäischen Nachbarn solidarisch zu helfen. Aber eine solche Solidarität ist keine Einbahnstraße.
Wie groß schätzen Sie die Gefahr ein, dass Europa an der Corona-Krise scheitert?
MERZ Ein Scheitern Europas ist leider nicht ausgeschlossen. Eine zweite Eurokrise ist auch nicht ausgeschlossen. Deswegen müssen wir alles tun, um Europa zusammenzuhalten und eine zweite, noch tiefere Eurokrise zu vermeiden. Diese Last kann aber nicht allein auf den Schultern Deutschlands liegen. Die Währungsunion ist inzwischen auch zu groß, als dass sie allein mit Geld aus zwei oder drei Ländern getragen werden kann.
Wäre es aus Ihrer Sicht sinnvoll, den CDU-Vorsitzenden erst im Dezember zu wählen, auch angesichts der Unsicherheit, wann Großveranstaltungen wieder stattfinden können? MERZ Wir haben den ursprünglich vorgesehenen Termin am 25. April einvernehmlich aufgehoben und die Wahl des CDU-Parteivorsitzenden auf einen späteren Zeitpunkt verlegt. Wann dieser Zeitpunkt sein könnte, muss in der CDU nach der Krise in Ruhe diskutiert werden. Dem will ich nicht vorgreifen. Unsere zeitlichen Optionen sind durch den Parteitag im Dezember begrenzt. Ob es vor Dezember noch eine Möglichkeit gibt, einen vorgezogenen Parteitag abzuhalten, ist offen.
Sehen Sie Ihre Chancen dadurch geschmälert, dass Ihr Konkurrent um den Parteivorsitz, Armin Laschet, nun täglich als Krisenmanager auftritt?
MERZ Über die Frage, welche Chancen und Risiken die einzelnen Kandidaten haben, mache ich mir im Moment keine Gedanken. Meine Gedanken drehen sich allein um die
Bewältigung der Corona-Krise und ihrer Auswirkungen. Dazu möchte ich meinen Teil beitragen.
Sie haben noch nie ein Regierungsamt bekleidet. Warum fühlen Sie sich trotzdem befähigt, Regierungschef zu werden?
MERZ Wir sprechen zunächst über den Parteivorsitz der CDU. Die Frage der Kanzlerkandidatur wird danach zusammen mit der CSU entschieden. Auch dieses Thema spielt für mich also zurzeit keine Rolle.
Die bisher unbeliebte große Koalition hat in der Krise an Popularität gewonnen. Könnte sie auch ein Modell für die Zeit nach 2021 sein? MERZ Es ist ein Ausdruck der Stärke unserer Demokratie, dass die Bevölkerung in einer solchen Krisensituation der Regierung viel Vertrauen schenkt. Das allein lässt aber noch keine Rückschlüsse darauf zu, welche Regierung nach der nächsten Bundestagswahl für Deutschland die richtige ist.