Rheinische Post Viersen

Von wegen niedliche Kätzchen

- VON MARTIN SCHWICKERT

Die Netflix-Doku „Tiger King“ist auch in Deutschlan­d zu einem skurrilen Medienphän­omen geworden.

Blondierte Vokuhila-Frisur, ein Schnauzbar­t, der bis in die Kinnpartie herunterge­zogen ist, ein knappes Dutzend Piercings auf Ohren und Augenbraue­n und einen Colt in Cowboy-Maier um die Hüften geschnallt – so sieht der neue Netflix-Star aus. Joe Exotic nennt sich der Mann, um den die True-Crime-Doku „Tiger King“kreist. Seit ihrem Start am 20. März hat sich die siebenteil­ige Serie zunächst in den USA und nun auch in Deutschlan­d zu einem skurrilen Medienphän­omen entwickelt.

Eigentlich wollten die Filmemache­r Eric Goode und Rebecca Chaiklin eine Dokumentat­ion über Raubtierha­lter in den USA drehen. Dort leben schätzungs­weise 5000 bis 10.000 Tiger in Gefangensc­haft – weit mehr als auf der ganzen Welt in freier Wildbahn. Mit den Großkatzen lässt sich gut Geld verdienen: Jahrelang ist Joe Exotic mit seinen Tigerbabys aus eigener Zucht durchs Land gereist. In den Shopping-Malls zahlte die Kundschaft massenhaft für ein Selfie mit einem süßen Raubkatzen­kind, das schon nach zwölf Wochen zu gefährlich für den offenen Publikumsv­erkehr wird. In Oklahoma, wo der Handel mit Raubtieren und Maschineng­ewehren gleicherma­ßen legal ist, betreibt Joe Exotic einen gut besuchten Zoo mit über 300 Tigern, Löwen, Panthern und Luchsen.

Auch das Zuchtgesch­äft floriert. Denn es gibt genug Kunden, die sich toll fühlen, wenn sie ein Tier dominieren können, das ganz oben in der Nahrungske­tte steht. Auch Joe Exotic setzt sich gerne neben Löwen und Tigern kuschelnd ins Bild und vermarktet sich mit einem eigenen Aufnahmest­udio in eigener Regie auf Youtube. Alles könnte bestens laufen für den exzentrisc­hen, schwulen Tigerzücht­er, wenn da nicht die Tierschütz­erin Carole Baskin wäre, die ihm das Geschäft vermiesen will. In Florida betreibt sie ein Tierheim für gerettete Raubkatzen und zieht energisch gegen Züchter und Großkatzen­quäler ins Feld. Das Haus ist vollgestel­lt mit Katzenskul­pturen. Sofabezüge, Tapeten, fast jedes Stück im begehbaren Kleidersch­rank ist in Tiger- oder Leopardenm­uster gehalten. Carole hat nicht nur eine Mission, sondern auch genug Geld, um sie voranzutre­iben.

In ihr hat Joe seine Nemesis gefunden – und die Serie ihre Erzählung, die von der skurrilen Milieuschi­lderung

in einen bizarren Crime-Plot eintaucht. Über fünf Jahre haben Goode und Chaiklin recherchie­rt, und auch wenn sie auf einen Kommentar weitestgeh­end verzichten, merkt man den Aufnahmen immer wieder die Überraschu­ng der Filmemache­r angesichts der unglaublic­hen Details und Ereignisse, die sich vor ihrer Kamera abspielen.

Die Dynamik, mit der hier die Fehde zwischen Tigerzücht­er und Tierschütz­erin bis hin zum Auftragsmo­rd eskaliert, hätte sich kein noch so ausgebufft­er Serienschr­eiber ausdenken können. Ähnliches gilt für das Arsenal der kuriosen Nebenfigur­en. Die reichen von einem Safari-Guru, der sich in seinem Zoo nicht nur hunderte Raubtiere hält, sondern auch ein Harem aus willigen Praktikant­innen, bis zu einem spurlos verschwund­enen Millionär, von dem behauptet wird, seine Frau habe ihn durch den Fleischwol­f gedreht und an die Tiger verfüttert.

Und dass viele der Berichtend­en während des entspannte­n Interviews ausgewachs­enen Raubkatzen den Nacken kraulen, fällt angesichts ihrer absolut unglaublic­hen Erzählunge­n irgendwann schon gar nicht mehr auf.

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FOTO: AFP Einer der 39 Tiger in Joe Exotics Tierpark.

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