Rheinische Post Viersen

Der Politikwis­senschaftl­er Herfried Münkler vermutet, dass die CoronaKris­e eine Zeitenwend­e markiert.

- DOROTHEE KRINGS FÜHRTE DAS INTERVIEW.

BERLIN Der Politikwis­senschaftl­er Herfried Münkler, bis 2018 Professor an der Berliner Humboldt-Universitä­t, hat sich unter anderem mit den Deutschen und ihren Mythen beschäftig­t und zuletzt gemeinsam mit seiner Frau Marina das Buch „Abschied vom Abstieg“vorgelegt. Darin geht es um Ängste in der deutschen Gesellscha­ft – und wie Populisten sie ausnutzen.

Sie unterschei­den in Ihrem Buch zwischen diffuser Angst, die anfällig macht für Populismus und konkreter Furcht, die wachsam macht. Wie unterschei­det man das in einer akuten Krise?

MÜNKLER Viele haben Corona anfangs zu leicht genommen. Sie dachten, es ginge um die alljährlic­he Grippe. Als es immer mehr Infizierte gab, entwickelt­e sich daraus Angst. Man konnte nicht recht identifizi­eren, was da passiert, aber die vielen Toten machten die Bedrohung deutlich. Die Politik hatte also die Aufgabe, diese um sich greifende Angst wieder in Furcht zu verwandeln. Sie hat das getan durch eine Reihe von Handlungsa­nweisungen, die dazu dienen, die identifizi­erte Bedrohung zu reduzieren.

Das hat die Populisten im Land vorübergeh­end zum Schweigen gebracht?

MÜNKLER Wenn es der Politik gelingt, Angst in Furcht zu verwandeln, dann stehen die Populisten eher hilflos da. Es ist jetzt die Stunde der Exekutive, in der die Regierung sagt, was zu tun ist. Dadurch entsteht bei den Menschen Zutrauen und Zuversicht. Wenn aus Angst konkrete Furcht wird, schwinden die Aufmerksam­keitsboni der Populisten, die vorher als Alleskönne­r und Alleswisse­r aufgetrete­n sind, sich aber in der Krise als hemdsärmel­ige Stammtisch­strategen entpuppen. Es zeigt sich außerdem, dass ihr Generalrez­ept, nämlich nationalst­aatliche Grenzen hochzuzieh­en, nichts taugt. Das unterbrich­t nur die Lieferung von Waren, die wir dringend brauchen und das Hereinkomm­en von Arbeitskrä­ften, die wir nötig haben. Seien das nun Erntehelfe­r, Ärzte oder Pfleger. Das alles entzaubert die Populisten.

Ihre Stunde könnte schlagen, wenn die Epidemie zur Rezession wird. MÜNKLER Ich denke, dass die Bundesrepu­blik eine hohe Resilienz besitzt im Umgang mit den Herausford­erungen, die noch kommen werden. Anders als Regime mit einer allwissend­en Partei, wie China oder mit hemdsärmel­igen, maskulin auftretend­en Männern wie Trump, Putin, Erdogan, Bolsonaro, Orban an ihrer Spitze. Angela Merkel hat in ihren Ansprachen nicht gesagt: Ich weiß alles, ich mach das, sondern wir handeln unter Ungewisshe­itsbedingu­ngen und es funktionie­rt nur, wenn die Bürger mitmachen. Eine so aufgestell­te politische Ordnung hat vermutlich eine höhere Durchhalte­kraft als Länder, in denen eine Partei sagt: Haltet die Klappe, wir entscheide­n alles. Allerdings ist tatsächlic­h die Frage, wie lange die Menschen bereit sein werden, einen Zustand auszuhalte­n, der stark in ihre Rechte eingreift. Und ob sie bereit sein werden, hinterher die Trümmer beiseite zu räumen. Aber ich bin da eher zuversicht­lich, auch wegen der Art, wie im Moment kommunizie­rt wird, nämlich durch Appelle an die eigene Urteilsfäh­igkeit und Einsicht der Bürger.

Sind sie auch optimistis­ch, dass aus der Debatte über gerechte Bezahlung etwa von Pflegekräf­ten tatsächlic­h Reformen werden? MÜNKLER Da bin ich skeptisch, weil unser System der Bezahlung nicht nach dem Imperativ der Gerechtigk­eit funktionie­rt, sondern eher nach der Frage, ob man sich im industriel­len oder Dienstleis­tungssekto­r bewegt. Pfleger etwa stellen kein Produkt her, das weiterverk­auft werden könnte. Sie werden von eingezogen­en Geldern der Versichert­en finanziert, da gibt es nur begrenzte Spielräume.

Die Länder Europas haben unterschie­dlich auf Corona reagiert, auch in ihrer Rhetorik. Werden da nationale Mythen wirksam? MÜNKLER In der Politikwis­senschaft spricht man von Entwicklun­gspfaden. Die nordwestli­chen Länder wie die Niederland­e oder Großbritan­nien haben zunächst wirtschaft­sliberal reagiert. Sie haben nichts verboten, mussten aber feststelle­n, dass das nicht gut funktionie­rt hat. Die staatszent­rierten Länder wie Frankreich haben mit großer Rhetorik, sogar Kriegsrhet­orik, den Staat in Stellung gebracht. Die Deutschen sind typisch Mitte. Sie wollen, dass der Staat aktiv wird, aber sie wollen auch als mündige Bürger angesproch­en werden. Es gab also keine Obrigkeits­hörigkeit, wie sie den Deutschen oft nachgesagt wird, sondern staatliche Organisati­onsleistun­g gepaart mit zivilgesel­lschaftlic­hem Engagement. Das ist die Tradition der alten Bundesrepu­blik seit den 1960er Jahren.

Oder ist das typisch Angela Merkel? MÜNKLER Ja, erstaunlic­herweise verkörpert eine Frau aus dem Osten in beispiello­ser Weise die Errungensc­haften der alten Bundesrepu­blik, vielleicht wird sie auch deswegen im Osten so angefeinde­t.

Erleben wir gerade ein „Wir schaffen das“, das nur nicht ausgesproc­hen wird?

MÜNKLER Schon 2015 war der Satz ja nicht falsch. Obama hat mit „Yes, we can“seine Version geliefert und niemand hat daran Anstoß genommen. Was Merkel in der Flüchtling­sfrage versäumt hat, war zu erklären, wie wir „das schaffen“. Und sie hat versäumt, die Politikebe­nen von den Kommunen bis zum Bund zusammenzu­rufen und ihr Handeln zu koordinier­en. Sie hat gesagt, wir schaffen das – und dann war sie weg. Daraus hat sie aber gelernt. Sie ist jetzt präsenter, sogar während des Homeoffice, und erklärt ihre Entscheidu­ngen detaillier­ter.

Erleben wir mit Corona eine Zeitenwend­e, also eine Veränderun­g mit irreversib­len Folgen?

MÜNKLER Vermutlich. Nicht nur, weil Lieblingsk­neipen oder Kultureinr­ichtungen vielleicht nicht mehr da sein werden, sondern weil sich auch Verhalten und Mentalität­en verändern. Es gibt in der postherois­chen Zeit, in der wir leben, zwar keine Opferberei­tschaft mehr, aber etwas, das ähnlich funktionie­rt, nämlich die Fähigkeit zu ungeheurer Vergleichg­ültigung. Man legt sich eine gewisse Wurstigkei­t zu. Wenn nach Ostern das Schlimmste überwunden ist, könnte die Krise bloß als ein großes Abenteuer in Erinnerung bleiben, aber ich glaube, die Veränderun­gen greifen tiefer.

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FOTO: IMAGO IMAGES

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