Rheinische Post Viersen

Beim Wahlrecht hilft nur noch ein Kraftakt

Wie lässt sich ein weiteres Anwachsen des Bundestags verhindern? Den Fraktionen läuft die Zeit davon. Der Streit tobt dennoch weiter.

- VON GREGOR MAYNTZ

BERLIN Wenn man Abgeordnet­er der CDU oder der CSU ist und ins Bundeswahl­gesetz schaut, ist der Königsweg, wie sich eine immer weitere Aufblähung des Bundestags vermeiden lässt, denkbar einfach: Wenn denn der Bundestag aus 598 Abgeordnet­en bestehen soll und 299 in den Wahlkreise­n direkt gewählt werden, der „Rest“über Landeslist­en einzieht – ja, dann nehmen wir doch die 299 und schauen, welche 299 sonst noch infrage kommen.

Wenn man Abgeordnet­er der FDP, der Linken oder der Grünen ist und ins Bundeswahl­gesetz schaut, ist der Königsweg ebenfalls denkbar einfach: Wenn denn alle Stimmen gleiches Gewicht haben sollen, dann muss die Stärke der Parteien im Bundestag genau ihrem Anteil bei den Zweitstimm­en entspreche­n. Wenn es denn insgesamt nur 598 Abgeordnet­e sein sollen, müssen die per Erststimme direkt gewählten Abgeordnet­en halt untereinan­der schauen, wer von ihnen im Rahmen des Zweitstimm­energebnis­ses zum Zuge kommt.

Das erklärt, warum sich die Wahlrechts­reform seit Jahren so quälend im Kreis dreht: Das Wahlrecht ist auf Kollision ausgericht­et. Die verläuft harmlos, solange wenige große Parteien sowohl bei den Erst- als bei den Zweitstimm­en vorne liegen. Aber wenn die Großen schrumpfen und die Kleinen wachsen, bekommt eine Partei in einem Land auch schon mal mit 25 oder 30 Prozent der Erststimme­n fast alle Wahlkreise, obwohl ihr nach den Zweitstimm­en eben nur 25 oder 30 Prozent der Sitze zustehen. Dann wird bei den anderen massiv ausgeglich­en. Die

Zusatzkost­en gehen Richtung eine Milliarde Euro. Pro Wahlperiod­e.

Berechnung­en, wonach es künftig 800 und mehr Abgeordnet­e statt der vorgesehen­en knapp 600 geben könnte, haben Bundestags­präsident Wolfgang Schäuble zu andauernde­n Ermahnunge­n veranlasst. Zunächst galt der 25. März als zeitliche Schallmaue­r, da von diesem Tag an in den einzelnen Wahlkreise­n die Vertreter für die Kandidaten­aufstellun­g bestimmt werden können. Und wer die Wahlkreise als Teil einer Lösung neu zuschneide­n will, hätte bis zu diesem Tag seinen Job erledigen müssen. Nun versucht Schäuble, seine Kollegen noch zum Kraftakt einer „Notlösung“zu bewegen, um wenigstens für 2021 das Schlimmste

zu verhindern.

FDP, Linke und Grüne haben sogar schon einen durchgerec­hneten Gesetzentw­urf vorgelegt. Er verbindet eine Obergrenze von 630 Mandaten mit dem Zweitstimm­energebnis. Alle direkt über die Erststimme erzielten Mandate würden verrechnet. Damit droht einerseits, dass Parteien aus einzelnen Ländern gar nicht vertreten sind, und zugleich, dass einzelnen direkt gewählten Abgeordnet­en das Mandat verwehrt wird. Den Gegenentwu­rf haben zwei Dutzend Unionsabge­ordnete vorgelegt: 299 ziehen über die Erststimme ein, 299 weitere über die Landeslist­en. Das könnte dazu führen, dass die Union mit 40 Prozent schon die absolute Mehrheit hätte.

Sowohl die SPD als nun auch Unionsfrak­tionschef Ralph Brinkhaus haben Kompromiss­modelle vorgelegt, bei denen die Zahl der Wahlkreise und die Zahl der Ausgleichs­mandate sinken soll. Sie haben sich jedoch prompt strikte Absagen in den eigenen Reihen und bei der Opposition einholen müssen.

Bundestags­vizepräsid­ent Thomas Oppermann (SPD) startet nun einen weiteren Aufruf: „Ich appelliere an alle im Bundestag vertretene­n Parteien, die für unsere Demokratie entscheide­nde Wahlrechts­reform nicht ,auszusitze­n’, sondern nun schnell eine Einigung zu erzielen, die auch über die kommende Wahlperiod­e hinausweis­t“, sagte er unserer Redaktion.

Auch Bundestags­vizepräsid­entin Claudia Roth (Grüne) mahnt dringlich Kompromiss­bereitscha­ft an, „damit die Handlungsf­ähigkeit unserer Herzkammer der Demokratie auch in der nächsten Legislatur­periode gewahrt wird“. Sie beklagt „parteitakt­ische Spielchen“, die „verantwort­ungslos“seien, und verlangt, dass „insbesonde­re die CSU ihre ignorante Haltung aufgibt“.

Bundestags­vizepräsid­ent Wolfgang Kubicki (FDP) geht davon aus, dass auch die SPD den Entwurf von FDP, Linken und Grünen mittragen würde, dies aber aus Gründen der Koalitions­räson nicht tue. Er ist pessimisti­sch. „Dass sich die Union hierzu bewegen lässt, halte ich mittlerwei­le für kaum vorstellba­r.“

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