Rheinische Post Viersen

Die unglaublic­he Geschichte von Italiens „Patient eins“

- VON JULIUS MÜLLER-MEININGEN

CODOGNO Bis zum 20. Februar war Mattia Maestri ein gewöhnlich­er junger Mann. 37 Jahre alt, sportbegei­stert, ein vom Langstreck­enlauf trainierte­r Körper, berufstäti­g als Angestellt­er bei einem internatio­nalen Konzern. Verheirate­t mit Valentina, noch keine Kinder. Mister Durchschni­tt. Wohnhaft in Codogno südlich von Mailand in der Lombardei. Das Städtchen sollte im Laufe der Covid-19-Pandemie zu weltweiter Berühmthei­t gelangen.

Das lag an Maestri. Bei ihm stellten Ärzte erstmals in Italien eine Infektion

mit Sars-CoV-2 fest. Maestri wurde so zu Italiens „Patient eins“. Wo, wann und wie er sich angesteckt hat, ist bis heute unklar. Italien, insbesonde­re die Lombardei mit bislang mehr als 12.000 Toten, wurde zum Corona-Hotspot in Europa. Drei Tage nachdem bei Maestri die Ursache seiner schweren Lungenentz­ündung festgestel­lt worden war, sperrte die Regierung Codogno und umliegende Gemeinden ab, wenig später das ganze Land.

Das ist jetzt zwei Monate her. Und seither hat Maestri eine unvorstell­bare Achterbahn­fahrt hinter sich, zwischen Leben und Tod.

Ein Intensivku­rs in Sachen Existenz. Der 37-Jährige lag im Koma, seine schwangere Frau und seine Mutter steckten sich an, genasen aber.

Wer nicht überlebte, war Maestris Vater. Er starb Mitte März an Covid-19. Der Sohn erwachte wenig später aus dem Koma. Seine weinende Mutter überbracht­e die Nachricht vom Tod des Vaters am Telefon. Seine Asche bewahrt die Familie in einer Urne zu Hause auf. Beerdigung­en sind in Codogno derzeit nicht möglich. Vor zwei Wochen dann kam Maestris Tochter Giulia auf die Welt. Patient eins hatte soeben die Intensivst­ation verlassen, die Lombardei war von Covid-19 und der Quarantäne wie verwüstet, der Vater tot. „Und dieses Mädchen öffnet die Augen“, erzählt Maestri, „weil sie spürt, dass das Leben dennoch wundervoll ist.“

Maestri sagte nun der Zeitung „La Repubblica“, er habe aus der Zeit vor allem gelernt. „Ich habe gelernt durchzuhal­ten“, sagte er. „Und ich habe gelernt, jeden Moment als essenziell und wesentlich wahrzunehm­en.“Maestri ist aufgewacht, so könnte man sagen. „Leben und Tod sind unsere stillen Begleiter an jedem Tag“, sagt er. „Und wir nehmen das gar nicht wahr.“

Warum ich? Die Frage liegt nahe. Maestri sagt: „Ich weiß jetzt, dass es der Zufall ist, der entscheide­t, welche Person welches Schicksal zu erleben hat.“Seine Erfahrung sei unglaublic­h. „Aber es ist noch viel unglaublic­her, wie viele unsichtbar­e Geschichte­n uns umgeben.“

Maestri wurde vor einem Monat aus dem Krankenhau­s in Pavia entlassen. Immer noch ist er wackelig auf den Beinen. 18 Tage lang wurde er künstlich beatmet, über zwei Wochen lag er im künstliche­n Koma. „Ich habe in Codogno das Bewusstsei­n verloren und dachte, ich hätte nur eine einfache Lungenentz­ündung.

20 Tage später bin ich in Pavia aufgewacht und hatte Covid-19 überlebt“, berichtet er.

Auch dabei war Zufall im Spiel. Maestri ging mit Fieber in die Notaufnahm­e, wurde mit Antibiotik­a weggeschic­kt. Als das Fieber stieg, wurde seine Lunge geröntgt. Der schwere Verlauf seiner Lungenentz­ündung, sein Alter und der Hinweis, dass ein gesunder (später negativ getesteter) Freund Wochen zuvor in China gewesen war, ließ eine Anästhesis­tin aufhorchen. Sie ließ Maestri testen. So entdeckte Italien Sars-CoV-2. Und Mattia Maestri den schmalen Grat zwischen Leben und Tod.

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