Wie digitale Experimente das Theater verändern
Immer mehr Bühnen wagen sich wegen Corona in den digitalen Raum. Doch das analoge Spiel bleibt ihre Bezugsgröße.
DÜSSELDORF Man hat ja bereits eine Ahnung davon, dass die Corona-Krise jenen Wendepunkt markieren wird, an dem sich ein Teil des sozialen Lebens in die digitale Welt verlagert hat. Das betrifft nicht nur Telefonkonferenzen mit Kollegen und den Großeltern, sondern auch die Kunst. Museen bieten virtuelle Rundgänge an, internationale PopStars vereinigen sich zum Benefizkonzert im Netz, und
Theater im ganzen Land ersinnen neue Formate für den digitalen Raum.
Da werden Stücke gelesen, im Wohnzimmer performt, Dramaturgen geben Lesetipps oder podcasten über das Corona-Leben. Doch es gibt auch erste Theater, die eigens für das Internet produzieren. In Mülheim etwa haben sich das Theater an der Ruhr und diverse freie Gruppen zusammengetan, um Boccaccios „Decamerone“in digitale Episoden zu verwandeln. Ausgegoren sind solche Versuche noch nicht, doch das Unfertige, Versuchsweise, Verfremdete ist bei den neuen Produktionen fürs Netz meist Teil des Programms.
Das wirft die Frage auf, ob sich eine neue Ästhetik entwickelt, die das Theater nachhaltig verändern wird. Etablieren sich neue Sparten, ähnlich wie vor ein paar Jahren die Bürgerbühnen entstanden sind? Der Intendant des Düsseldorfer Schauspielhauses ist da skeptisch. „Ich halte das eher für eine aktuelle Spielart“, sagt Wilfried Schulz, „es hat ja schon lange vor Corona Künstler gegeben, die für das Internet gearbeitet haben, daraus hat sich aber nicht sprunghaft eine Symbiose zwischen
Theater und Netz ergeben, die eine interessante Reibung erzeugt hätte.“
Wilfried Schulz hält die physische Präsenz des Publikums im selben Raum mit den Darstellern für eine Grundbedingung von Theater. Und er glaubt, dass diese Form des Spiels in der Gegenwart von anderen nicht verloren gehen wird. „Man hat schon in der Spätantike gemutmaßt, das Theater werde verschwinden, das ist nicht passiert. Mit dem gleichen Recht könnte man sagen, das Gespräch wird verschwinden oder die Berührung zwischen Menschen, auch das wird nicht passieren. Spiel und Verwandlung gehören zum Sein des Menschen.“
Die häufig „manipulativen Erregungsräumen des Internet“seien nicht einfach für die Theaterkunst nutzbar. Aber auch Theatermacher müssten die neuen „Massenmedien“künstlerisch erforschen und fruchtbar machen, sagt Sven Schlötcke, Künstlerischer Leiter und Dramaturg am Mülheimer Theater an der Ruhr. Corona wirke dabei als Beschleuniger. „Wir durchlaufen gerade in kurzer Zeit einen Lernprozess. Theater ist eine Kunstform, die im Moment geschieht und vergeht, das versuchen wir zu übertragen, indem wir auch für den digitalen Raum live produzieren“, sagt Schlötcke.
Trotzdem gebe es deutliche Differenzen zwischen analogem und digitalem Theater, die nicht überspielt werden könnten – und auch nicht sollten. Dazu gehöre etwa die Vereinzelung des Publikums und der Künstler in isolierten Räumen. Das Internet sei eben kein öffentlicher Ort, an dem Menschen ein wirklich kollektives Erleben teilen. Schlötcke mag darum für die virtuellen Versuche gar nicht von Theater sprechen. „Wir umspielen Material auf der Basis der Erfahrung von Theater“, sagt er, „Theater kann das nicht sein. Im besten Fall entstehen eigene Ausdrucksformen.“
Das Internet ist ein Medium der schnellen Information und der Emotionalisierung. Das Theater hingegen versucht, Debatten grundsätzliche Fragestellungen abzuringen – auch durch den Rückgriff auf alte Stoffe. „Im Netz geht es bisher aber vor allem ums Senden, ums Meinung kundtun, nicht ums Empfangen. So entsteht aber häufig keine wirkliche Kommunikation“, sagt
Schlötcke. Auch für den Chat mit dem Publikum müssen sich also noch Formen entwickeln, die über Daumen rauf oder runter hinausgehen. Am Münchner Residenztheater etwa läuft jetzt ein Soloabend vor einem fünfköpfigen Stellvertreter-Publikum, das sich per Mikrofon auch bemerkbar machen kann.
„Das Theater darf die körperliche Präsenz im öffentlichen Raum jetzt nicht aufgeben“, sagt Monika Gintersdorfer, die mit den freien Gruppen „Gintersdorfer/Klaßen“und „La Fleur“seit Jahren mit festen, internationalen Ensembles arbeitet. Die sind nun doppelt getroffen, weil Produktionsaufträge wegbrechen und Reisen unmöglich ist. „Wir denken weniger über digitale Projekte nach, die bisher auch kein Mensch bezahlt“, sagt Gintersdorfer. Sie fragten sich eher, wie sie Menschen in Kontakt halten und weiter ästhetische und politische Botschaften in die Öffentlichkeit bringen könnten. „Wir sollten dabei auch weiter international denken“, so Gintersdorfer, „damit Corona nicht dazu führt, dass alle in die Isolation gehen und nur noch um das enge Eigene kreisen.“Plakataktionen, wie sie die freie Produktionsstätte Kampnagel in Hamburg begonnen hat, seien so ein Mittel. „Wir müssen lernen, auch mit Sicherheitsabständen zu performen und sichtbar zu bleiben.“
Je länger die Bühnen geschlossen
bleiben, desto wahrscheinlicher ist, dass aus den Ausdrucksformen, die Künstler jetzt im digitalen Raum entwickeln, neue Spielarten entstehen. Doch wird das analoge Theater wohl das Referenzsystem bleiben, auf das sich neue Formate beziehen. Bisher jedenfalls leben die digitalen Experimente davon, dass Zuschauer „ihre Schauspieler“von analogen Aufführungen kennen. Und dass sie bereit sind, sich auch daheim auf die Anstrengung einer Theaterperformance einzulassen, also etwa nicht vorspulen oder nebenher bügeln.
Die Experimente mit dem Digitalen wecken womöglich auch eine neue Sehnsucht nach dem Analogen. „Die Leuten spüren jetzt, dass es eben nicht das gleiche ist, ob sie etwas im Netz ansehen oder live in einem Raum erleben“, sagt Schlötcke. Er sieht darin die sehr grundsätzliche Chance, neu zu bewerten, was uns wichtig ist. Was das Leben lebenswert macht. Wenn die wirtschaftlichen Folgen von Corona spürbarer werden, wird das eine existenzielle Frage werden.