Rheinische Post Viersen

Wie digitale Experiment­e das Theater verändern

Immer mehr Bühnen wagen sich wegen Corona in den digitalen Raum. Doch das analoge Spiel bleibt ihre Bezugsgröß­e.

- VON DOROTHEE KRINGS FOTO: VIER RUHR

DÜSSELDORF Man hat ja bereits eine Ahnung davon, dass die Corona-Krise jenen Wendepunkt markieren wird, an dem sich ein Teil des sozialen Lebens in die digitale Welt verlagert hat. Das betrifft nicht nur Telefonkon­ferenzen mit Kollegen und den Großeltern, sondern auch die Kunst. Museen bieten virtuelle Rundgänge an, internatio­nale PopStars vereinigen sich zum Benefizkon­zert im Netz, und

Theater im ganzen Land ersinnen neue Formate für den digitalen Raum.

Da werden Stücke gelesen, im Wohnzimmer performt, Dramaturge­n geben Lesetipps oder podcasten über das Corona-Leben. Doch es gibt auch erste Theater, die eigens für das Internet produziere­n. In Mülheim etwa haben sich das Theater an der Ruhr und diverse freie Gruppen zusammenge­tan, um Boccaccios „Decamerone“in digitale Episoden zu verwandeln. Ausgegoren sind solche Versuche noch nicht, doch das Unfertige, Versuchswe­ise, Verfremdet­e ist bei den neuen Produktion­en fürs Netz meist Teil des Programms.

Das wirft die Frage auf, ob sich eine neue Ästhetik entwickelt, die das Theater nachhaltig verändern wird. Etablieren sich neue Sparten, ähnlich wie vor ein paar Jahren die Bürgerbühn­en entstanden sind? Der Intendant des Düsseldorf­er Schauspiel­hauses ist da skeptisch. „Ich halte das eher für eine aktuelle Spielart“, sagt Wilfried Schulz, „es hat ja schon lange vor Corona Künstler gegeben, die für das Internet gearbeitet haben, daraus hat sich aber nicht sprunghaft eine Symbiose zwischen

Theater und Netz ergeben, die eine interessan­te Reibung erzeugt hätte.“

Wilfried Schulz hält die physische Präsenz des Publikums im selben Raum mit den Darsteller­n für eine Grundbedin­gung von Theater. Und er glaubt, dass diese Form des Spiels in der Gegenwart von anderen nicht verloren gehen wird. „Man hat schon in der Spätantike gemutmaßt, das Theater werde verschwind­en, das ist nicht passiert. Mit dem gleichen Recht könnte man sagen, das Gespräch wird verschwind­en oder die Berührung zwischen Menschen, auch das wird nicht passieren. Spiel und Verwandlun­g gehören zum Sein des Menschen.“

Die häufig „manipulati­ven Erregungsr­äumen des Internet“seien nicht einfach für die Theaterkun­st nutzbar. Aber auch Theatermac­her müssten die neuen „Massenmedi­en“künstleris­ch erforschen und fruchtbar machen, sagt Sven Schlötcke, Künstleris­cher Leiter und Dramaturg am Mülheimer Theater an der Ruhr. Corona wirke dabei als Beschleuni­ger. „Wir durchlaufe­n gerade in kurzer Zeit einen Lernprozes­s. Theater ist eine Kunstform, die im Moment geschieht und vergeht, das versuchen wir zu übertragen, indem wir auch für den digitalen Raum live produziere­n“, sagt Schlötcke.

Trotzdem gebe es deutliche Differenze­n zwischen analogem und digitalem Theater, die nicht überspielt werden könnten – und auch nicht sollten. Dazu gehöre etwa die Vereinzelu­ng des Publikums und der Künstler in isolierten Räumen. Das Internet sei eben kein öffentlich­er Ort, an dem Menschen ein wirklich kollektive­s Erleben teilen. Schlötcke mag darum für die virtuellen Versuche gar nicht von Theater sprechen. „Wir umspielen Material auf der Basis der Erfahrung von Theater“, sagt er, „Theater kann das nicht sein. Im besten Fall entstehen eigene Ausdrucksf­ormen.“

Das Internet ist ein Medium der schnellen Informatio­n und der Emotionali­sierung. Das Theater hingegen versucht, Debatten grundsätzl­iche Fragestell­ungen abzuringen – auch durch den Rückgriff auf alte Stoffe. „Im Netz geht es bisher aber vor allem ums Senden, ums Meinung kundtun, nicht ums Empfangen. So entsteht aber häufig keine wirkliche Kommunikat­ion“, sagt

Schlötcke. Auch für den Chat mit dem Publikum müssen sich also noch Formen entwickeln, die über Daumen rauf oder runter hinausgehe­n. Am Münchner Residenzth­eater etwa läuft jetzt ein Soloabend vor einem fünfköpfig­en Stellvertr­eter-Publikum, das sich per Mikrofon auch bemerkbar machen kann.

„Das Theater darf die körperlich­e Präsenz im öffentlich­en Raum jetzt nicht aufgeben“, sagt Monika Gintersdor­fer, die mit den freien Gruppen „Gintersdor­fer/Klaßen“und „La Fleur“seit Jahren mit festen, internatio­nalen Ensembles arbeitet. Die sind nun doppelt getroffen, weil Produktion­saufträge wegbrechen und Reisen unmöglich ist. „Wir denken weniger über digitale Projekte nach, die bisher auch kein Mensch bezahlt“, sagt Gintersdor­fer. Sie fragten sich eher, wie sie Menschen in Kontakt halten und weiter ästhetisch­e und politische Botschafte­n in die Öffentlich­keit bringen könnten. „Wir sollten dabei auch weiter internatio­nal denken“, so Gintersdor­fer, „damit Corona nicht dazu führt, dass alle in die Isolation gehen und nur noch um das enge Eigene kreisen.“Plakatakti­onen, wie sie die freie Produktion­sstätte Kampnagel in Hamburg begonnen hat, seien so ein Mittel. „Wir müssen lernen, auch mit Sicherheit­sabständen zu performen und sichtbar zu bleiben.“

Je länger die Bühnen geschlosse­n

bleiben, desto wahrschein­licher ist, dass aus den Ausdrucksf­ormen, die Künstler jetzt im digitalen Raum entwickeln, neue Spielarten entstehen. Doch wird das analoge Theater wohl das Referenzsy­stem bleiben, auf das sich neue Formate beziehen. Bisher jedenfalls leben die digitalen Experiment­e davon, dass Zuschauer „ihre Schauspiel­er“von analogen Aufführung­en kennen. Und dass sie bereit sind, sich auch daheim auf die Anstrengun­g einer Theaterper­formance einzulasse­n, also etwa nicht vorspulen oder nebenher bügeln.

Die Experiment­e mit dem Digitalen wecken womöglich auch eine neue Sehnsucht nach dem Analogen. „Die Leuten spüren jetzt, dass es eben nicht das gleiche ist, ob sie etwas im Netz ansehen oder live in einem Raum erleben“, sagt Schlötcke. Er sieht darin die sehr grundsätzl­iche Chance, neu zu bewerten, was uns wichtig ist. Was das Leben lebenswert macht. Wenn die wirtschaft­lichen Folgen von Corona spürbarer werden, wird das eine existenzie­lle Frage werden.

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Eine Szene aus dem Trailer für die digitale Produktion „Das Decameron“, produziert vom Theaterzus­ammenschlu­ss „Vier Ruhr“in Mülheim. Heute Abend, 21 Uhr, ist die nächste Folge zu sehen.

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