„In Familien ist die Situation angespannt“
Die Dezernentin berichtet von vielen Anrufen bei der Erziehungsberatung und fände eine Öffnung der Spielplätze gut.
In Mönchengladbach gibt es viele Menschen, die mit der Kindererziehung überfordert sind. Wie viele Kinder mussten Sie im vergangenen Jahr aus Familien herausholen?
Schall Es wurden im vergangenen Jahr 1116 Fälle geprüft, in 371 Fällen kam es zu einer Inobhutnahme des Kindes. Das ist über die Jahre eine relativ konstante Zahl.
Es gab gerade den überaus traurigen Fall eines toten kleinen Jungen, in dessen Fall die Polizei ermittelt. Zusammen mit den Fällen der beiden kleinen Jungen Leo und Ben sind das drei tote Kinder in fünf Jahren. Gibt es eine Häufung solcher Fälle in Mönchengladbach? Schall Jedes tote Kind ist eines zu viel, aber so traurig das ist – Mönchengladbach mit seinen 270.000 Einwohnern liegt damit im bundesweiten Durchschnitt.
Kitas und Schulen sind geschlossen. Wie halten Sie in Corona-Zeiten den Kontakt zu den Familien aufrecht?
Schall Zum einen halten die Kitas telefonischen Kontakt zu jeder Familien und jedem Kind. Alle werden regelmäßig angerufen. Es gibt auch Video-Calls oder es werden gemeinsame Spaziergänge angeboten, um im Gespräch zu bleiben. Die frühen Hilfen, die in Mönchengladbach Kontakt zu jeder Familie mit einem Neugeborenen aufnehmen, tun dies jetzt telefonisch. Gleichzeitig haben wir viele Anrufe bei der Erziehungsberatung, deren telefonisches Angebot wir deutlich ausgeweitet haben. Die Eltern stellen hier viele Fragen telefonisch, vom Homeschooling bis hin zu Aktivitäten mit Kindern. Ich würde sagen, dass wir momentan zu fast jeder zweiten Familie in der Stadt Kontakt haben.
Familien scheinen oft überfordert. Was ist der häufigste Grund?
Schall Viele Familien merken, wenn sie überfordert sind und melden sich von selbst. Oft geht es um konkrete Tipps in Entwicklungsphasen, die schwierig sind oder um rebellische Teenager.
Was tun Sie, wenn Sie eine Meldung über Kindeswohlgefährdung bekommen? Wie überprüft man das während der Kontaktsperre? Schall Grundsätzlich geht Kindeswohl vor Coronaschutz. Wir dürfen selbstverständlich in solchen Fällen in die Wohnungen, es gibt ja kein Betretungsverbot, nur eine Kontaktsperre. Notfalls tragen die Mitarbeiter
des Jugendamtes Schutzkleidung und Masken.
Kommt es vor, dass den Mitarbeitern des Jugendamtes der Zutritt verweigert wird?
Schall Neulich geschah das unter Verweis auf eine Quarantäne. Aber die Mitarbeiterin hatte ihre Schutzausrüstung dabei und konnte die Wohnung dennoch betreten. Notfalls können wir eine solche Überprüfung mit Polizeischutz durchführen, aber das ist wirklich sehr selten.
Die Situation ist durch Corona angespannt. Haben Sie vermehrt Problem-Anzeigen?
Schall Die Situation ist mit Sicherheit bei allen Familien angespannt, denn den Kindern fehlen die Kontakte zu Gleichaltrigen, was für sie schwer auszuhalten ist. Dort, wo wir mit den Hilfen zur Erziehung ohnehin tätig sind, ist der Kontakt so intensiv wie immer. Die Sozialarbeiter kennen die Familien gut, die Hausbesuche finden auch weiterhin statt.
Aber ohne Schule und Kita fallen auch Hinweisquellen weg, nämlich Erzieherinnen oder Lehrer, die Auffälliges beobachten und Sie informieren. Ist das eine Gefahr?
Schall Wir sind auf Hinweise angewiesen, das ist richtig. Aber die Hinweise erfolgen nicht nur durch Pädagogen, sondern auch durch Ärzte, Verwandte oder Nachbarn. Hier möchte ich an alle appellieren, weiterhin sensibel zu reagieren und Verdachtsfälle zu melden.
Hätte im Fall des toten Fünfjährigen so etwas geholfen?
Schall Zu dem laufenden Ermittlungsverfahren darf und kann ich mich nicht äußern. Aber grundsätzlich sollte jeder, der einen Verdacht hat, sich melden. Der Bereitschaftsdienst des Jugendamtes ist unter 02161 259559 ständig zu erreichen, außerhalb der Bürozeiten über die Polizei oder die Feuerwehr.
Woran erkennt man eine Kindeswohlgefährdung? Welche Kriterien legen Sie an?
Schall Eine Kindeswohlgefährdung liegt vor, wenn die körperliche, geistige, seelische oder emotionale Entwicklung gestört wird.
Und konkret? Wann sollte man sich melden? Wenn das Kind nebenan viel schreit? Wenn die Eltern in einer Messie-Wohnung wohnen?
Schall Das ist natürlich sehr individuell. Wenn ein Kind mal schreit oder eine Wohnung unaufgeräumt ist, ist das natürlich noch keine Kindeswohlgefährdung. Eine echte Messie-Wohnung muss nicht, kann aber Kindeswohlgefährdung darstellen. Dadurch können die Gesundheit und die psychische Stabilität eines Kindes im Einzelfall gefährdet werden. Nachbarn können Auffälligkeiten aber durchaus erkennen, weil sie die Familie und das Umfeld kennen. Und grundsätzlich ist es besser, einmal zu viel als zu wenig Alarm zu schlagen.
Gibt es Situationen, in denen das Jugendamt automatisch tätig wird? Weil die Mutter minderjährig ist oder die Eltern drogensüchtig sind? Schall Wir sehen uns jeden Fall einzeln an. Bei minderjährigen Müttern wird automatisch eine Amtsvormundschaft eingesetzt. Sollten Eltern drogenabhängig sein, gibt es besondere Programme, bei denen die Eltern und die Kinder beraten und unterstützt werden. Es gibt keinen Automatismus.
Was passiert, wenn das Jugendamt tätig wird? Vor einer Inobhutnahme?
Schall Dazu gibt es eine bundesweite Regelung. Es gibt eine Überprüfung, bei der der Zustand des Kindes begutachtet wird. Dazu gehen zwei Sozialarbeiter in die Familie. Es wird mit den Eltern gesprochen, mit Ärzten, Pädagogen und dem Umfeld des Kindes. Je nach Lage und Einschätzung kann dann weitere Unterstützung und Begleitung angeboten werden, aber als äußersten Schritt auch die Unterbringung in einem Kinderheim. Die letztendliche Entscheidung über eine Inobhutnahme trifft dann das Familiengericht, denn es handelt sich um einen schwerwiegenden Eingriff in die Grundrechte.
Die Mitarbeiter des Allgemeinen Sozialen Dienstes haben eine sehr verantwortungsvolle Aufgabe. Finden Sie genug Personal?
Schall Ja, es ist sehr verantwortungsvoll, aber tatsächlich machen es viele gern, weil man auch vielen Menschen helfen kann. Wir unterstützen die Mitarbeiter mit Weiterqualifizierungen und Supervision.
Kinder, die keine Strukturen und Regeln kennenlernen, können dies auch später nicht weitervermitteln, wenn sie eine eigene Familie haben. Wie kann man diesen Teufelskreis durchbrechen?
Schall Wir versuchen, ganzheitlich über Quartiersprojekte Angebote zu machen, die Strukturen schaffen. Kita, Ogata, Sportvereine, Familienbildungsstätte, Familienzentren, das HOME-Projekt mit den Sozialarbeitern – das alles bildet ein Netz.
Jugendamtsleiter Klaus Röttgen hat einmal gesagt, dass man den Zusammenhang zwischen dem Bezug von Hartz IV und den Hilfen zur Erziehung statistisch nachweisen kann. Wie viele Kinder von Hartz IV-Empfängern sind schon früh im Kindergarten?
Schall Da gibt es keine Unterschiede zwischen Transfer-Empfängern und berufstätigen Eltern. Alle Eltern wollen das Beste für ihr Kind. Aber Bildung ist sicher ein Faktor, mit dem man sich am besten gegen Armut schützt.
Sind die Transferleistungen für Familien ausreichend?
Schall Wir sehen gerade, dass den Familien Geld fehlt. Während der Corona-Zeit fallen die Zuschüsse für Mittagessen und Freizeitaktivitäten weg. Das merken die Familien sehr.
Haben Sie Tipps, wie Familien mit der durch die Corona-Krise hervorgerufene Anspannung umgehen können?
Schall Nicht nur Familien, sondern alle müssen darauf achten, für einen strukturierten Tagesablauf zu sorgen, feste Zeiten für Mahlzeiten, Hausaufgaben, Hausarbeit und Freizeit festzulegen. Auch Spaziergänge und Sport sollte man einplanen. Für die Familien wäre es gut, wenn Spielplätze und der Tiergarten wieder öffnen könnten.
Kommt die Spielplatzöffnung bald? Schall Wir sind da auf das Land angewiesen. Als Stadt haben wir die Spielplätze so lange offen gelassen, wie es ging. Sobald die Landesverordnung aufgehoben wird, können wir die Spielplätze wieder öffnen. Es muss ja nur das Flatterband entfernt werden. Ich würde mich allerdings freuen, wenn das Land so etwas auch mal rechtzeitig mit uns absprechen würde.