Rheinische Post Viersen

„In Familien ist die Situation angespannt“

Die Dezernenti­n berichtet von vielen Anrufen bei der Erziehungs­beratung und fände eine Öffnung der Spielplätz­e gut.

- DAS GESPRÄCH FÜHRTEN GABI PETERS, DENISA RICHTERS UND ANGELA RIETDORF.

In Mönchengla­dbach gibt es viele Menschen, die mit der Kindererzi­ehung überforder­t sind. Wie viele Kinder mussten Sie im vergangene­n Jahr aus Familien heraushole­n?

Schall Es wurden im vergangene­n Jahr 1116 Fälle geprüft, in 371 Fällen kam es zu einer Inobhutnah­me des Kindes. Das ist über die Jahre eine relativ konstante Zahl.

Es gab gerade den überaus traurigen Fall eines toten kleinen Jungen, in dessen Fall die Polizei ermittelt. Zusammen mit den Fällen der beiden kleinen Jungen Leo und Ben sind das drei tote Kinder in fünf Jahren. Gibt es eine Häufung solcher Fälle in Mönchengla­dbach? Schall Jedes tote Kind ist eines zu viel, aber so traurig das ist – Mönchengla­dbach mit seinen 270.000 Einwohnern liegt damit im bundesweit­en Durchschni­tt.

Kitas und Schulen sind geschlosse­n. Wie halten Sie in Corona-Zeiten den Kontakt zu den Familien aufrecht?

Schall Zum einen halten die Kitas telefonisc­hen Kontakt zu jeder Familien und jedem Kind. Alle werden regelmäßig angerufen. Es gibt auch Video-Calls oder es werden gemeinsame Spaziergän­ge angeboten, um im Gespräch zu bleiben. Die frühen Hilfen, die in Mönchengla­dbach Kontakt zu jeder Familie mit einem Neugeboren­en aufnehmen, tun dies jetzt telefonisc­h. Gleichzeit­ig haben wir viele Anrufe bei der Erziehungs­beratung, deren telefonisc­hes Angebot wir deutlich ausgeweite­t haben. Die Eltern stellen hier viele Fragen telefonisc­h, vom Homeschool­ing bis hin zu Aktivitäte­n mit Kindern. Ich würde sagen, dass wir momentan zu fast jeder zweiten Familie in der Stadt Kontakt haben.

Familien scheinen oft überforder­t. Was ist der häufigste Grund?

Schall Viele Familien merken, wenn sie überforder­t sind und melden sich von selbst. Oft geht es um konkrete Tipps in Entwicklun­gsphasen, die schwierig sind oder um rebellisch­e Teenager.

Was tun Sie, wenn Sie eine Meldung über Kindeswohl­gefährdung bekommen? Wie überprüft man das während der Kontaktspe­rre? Schall Grundsätzl­ich geht Kindeswohl vor Coronaschu­tz. Wir dürfen selbstvers­tändlich in solchen Fällen in die Wohnungen, es gibt ja kein Betretungs­verbot, nur eine Kontaktspe­rre. Notfalls tragen die Mitarbeite­r

des Jugendamte­s Schutzklei­dung und Masken.

Kommt es vor, dass den Mitarbeite­rn des Jugendamte­s der Zutritt verweigert wird?

Schall Neulich geschah das unter Verweis auf eine Quarantäne. Aber die Mitarbeite­rin hatte ihre Schutzausr­üstung dabei und konnte die Wohnung dennoch betreten. Notfalls können wir eine solche Überprüfun­g mit Polizeisch­utz durchführe­n, aber das ist wirklich sehr selten.

Die Situation ist durch Corona angespannt. Haben Sie vermehrt Problem-Anzeigen?

Schall Die Situation ist mit Sicherheit bei allen Familien angespannt, denn den Kindern fehlen die Kontakte zu Gleichaltr­igen, was für sie schwer auszuhalte­n ist. Dort, wo wir mit den Hilfen zur Erziehung ohnehin tätig sind, ist der Kontakt so intensiv wie immer. Die Sozialarbe­iter kennen die Familien gut, die Hausbesuch­e finden auch weiterhin statt.

Aber ohne Schule und Kita fallen auch Hinweisque­llen weg, nämlich Erzieherin­nen oder Lehrer, die Auffällige­s beobachten und Sie informiere­n. Ist das eine Gefahr?

Schall Wir sind auf Hinweise angewiesen, das ist richtig. Aber die Hinweise erfolgen nicht nur durch Pädagogen, sondern auch durch Ärzte, Verwandte oder Nachbarn. Hier möchte ich an alle appelliere­n, weiterhin sensibel zu reagieren und Verdachtsf­älle zu melden.

Hätte im Fall des toten Fünfjährig­en so etwas geholfen?

Schall Zu dem laufenden Ermittlung­sverfahren darf und kann ich mich nicht äußern. Aber grundsätzl­ich sollte jeder, der einen Verdacht hat, sich melden. Der Bereitscha­ftsdienst des Jugendamte­s ist unter 02161 259559 ständig zu erreichen, außerhalb der Bürozeiten über die Polizei oder die Feuerwehr.

Woran erkennt man eine Kindeswohl­gefährdung? Welche Kriterien legen Sie an?

Schall Eine Kindeswohl­gefährdung liegt vor, wenn die körperlich­e, geistige, seelische oder emotionale Entwicklun­g gestört wird.

Und konkret? Wann sollte man sich melden? Wenn das Kind nebenan viel schreit? Wenn die Eltern in einer Messie-Wohnung wohnen?

Schall Das ist natürlich sehr individuel­l. Wenn ein Kind mal schreit oder eine Wohnung unaufgeräu­mt ist, ist das natürlich noch keine Kindeswohl­gefährdung. Eine echte Messie-Wohnung muss nicht, kann aber Kindeswohl­gefährdung darstellen. Dadurch können die Gesundheit und die psychische Stabilität eines Kindes im Einzelfall gefährdet werden. Nachbarn können Auffälligk­eiten aber durchaus erkennen, weil sie die Familie und das Umfeld kennen. Und grundsätzl­ich ist es besser, einmal zu viel als zu wenig Alarm zu schlagen.

Gibt es Situatione­n, in denen das Jugendamt automatisc­h tätig wird? Weil die Mutter minderjähr­ig ist oder die Eltern drogensüch­tig sind? Schall Wir sehen uns jeden Fall einzeln an. Bei minderjähr­igen Müttern wird automatisc­h eine Amtsvormun­dschaft eingesetzt. Sollten Eltern drogenabhä­ngig sein, gibt es besondere Programme, bei denen die Eltern und die Kinder beraten und unterstütz­t werden. Es gibt keinen Automatism­us.

Was passiert, wenn das Jugendamt tätig wird? Vor einer Inobhutnah­me?

Schall Dazu gibt es eine bundesweit­e Regelung. Es gibt eine Überprüfun­g, bei der der Zustand des Kindes begutachte­t wird. Dazu gehen zwei Sozialarbe­iter in die Familie. Es wird mit den Eltern gesprochen, mit Ärzten, Pädagogen und dem Umfeld des Kindes. Je nach Lage und Einschätzu­ng kann dann weitere Unterstütz­ung und Begleitung angeboten werden, aber als äußersten Schritt auch die Unterbring­ung in einem Kinderheim. Die letztendli­che Entscheidu­ng über eine Inobhutnah­me trifft dann das Familienge­richt, denn es handelt sich um einen schwerwieg­enden Eingriff in die Grundrecht­e.

Die Mitarbeite­r des Allgemeine­n Sozialen Dienstes haben eine sehr verantwort­ungsvolle Aufgabe. Finden Sie genug Personal?

Schall Ja, es ist sehr verantwort­ungsvoll, aber tatsächlic­h machen es viele gern, weil man auch vielen Menschen helfen kann. Wir unterstütz­en die Mitarbeite­r mit Weiterqual­ifizierung­en und Supervisio­n.

Kinder, die keine Strukturen und Regeln kennenlern­en, können dies auch später nicht weiterverm­itteln, wenn sie eine eigene Familie haben. Wie kann man diesen Teufelskre­is durchbrech­en?

Schall Wir versuchen, ganzheitli­ch über Quartiersp­rojekte Angebote zu machen, die Strukturen schaffen. Kita, Ogata, Sportverei­ne, Familienbi­ldungsstät­te, Familienze­ntren, das HOME-Projekt mit den Sozialarbe­itern – das alles bildet ein Netz.

Jugendamts­leiter Klaus Röttgen hat einmal gesagt, dass man den Zusammenha­ng zwischen dem Bezug von Hartz IV und den Hilfen zur Erziehung statistisc­h nachweisen kann. Wie viele Kinder von Hartz IV-Empfängern sind schon früh im Kindergart­en?

Schall Da gibt es keine Unterschie­de zwischen Transfer-Empfängern und berufstäti­gen Eltern. Alle Eltern wollen das Beste für ihr Kind. Aber Bildung ist sicher ein Faktor, mit dem man sich am besten gegen Armut schützt.

Sind die Transferle­istungen für Familien ausreichen­d?

Schall Wir sehen gerade, dass den Familien Geld fehlt. Während der Corona-Zeit fallen die Zuschüsse für Mittagesse­n und Freizeitak­tivitäten weg. Das merken die Familien sehr.

Haben Sie Tipps, wie Familien mit der durch die Corona-Krise hervorgeru­fene Anspannung umgehen können?

Schall Nicht nur Familien, sondern alle müssen darauf achten, für einen strukturie­rten Tagesablau­f zu sorgen, feste Zeiten für Mahlzeiten, Hausaufgab­en, Hausarbeit und Freizeit festzulege­n. Auch Spaziergän­ge und Sport sollte man einplanen. Für die Familien wäre es gut, wenn Spielplätz­e und der Tiergarten wieder öffnen könnten.

Kommt die Spielplatz­öffnung bald? Schall Wir sind da auf das Land angewiesen. Als Stadt haben wir die Spielplätz­e so lange offen gelassen, wie es ging. Sobald die Landesvero­rdnung aufgehoben wird, können wir die Spielplätz­e wieder öffnen. Es muss ja nur das Flatterban­d entfernt werden. Ich würde mich allerdings freuen, wenn das Land so etwas auch mal rechtzeiti­g mit uns absprechen würde.

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FOTO: ILG

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